Brillanter Chronist der Gegenwart

„Als Vertreter der Oberschicht hatten sie nicht die Absicht, einander zu erniedrigen, und legten großen Wert darauf, dass sich der Untergang ihrer Beziehung unter optimalen zivilisatorischen Bedingungen vollzog.“

Michel Houellebecq tritt nach drei Jahren wieder mit einem Roman ins literarische Rampenlicht. Länger und klüger denn je – auf mehr als 600 nie langweiligen Seiten analysiert er in „Vernichten“ (DuMont, übersetzt von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek) die moderne Welt so schonungslos und formvollendet unterhaltsam wie kaum ein anderer Schriftsteller. Diesmal schildert er weniger Sex als sonst, taucht jedoch wie gewohnt in die Abgründe von Beziehungen (siehe oben) und Gesellschaften ein.

Der Plot spielt in fünf Jahren, kurz vor den nächsten Präsidentschaftswahlen. Paul ist ein wichtiger politischer Beamter, der Vertraute des französischen Wirtschafts- und Finanzministers. Gemeinsam versuchen die beiden eine mysteriöse Serie von Cyberangriffen und Spamvideos aufzuklären, die sich gegen den Minister und Konzerne richtet.

Die Staatssicherheit ist also in Gefahr, doch auch Pauls Privatleben droht auseinanderzubrechen. Seit zehn Jahren leben seine Frau und er nur noch voller Verachtung nebeneinander her, bald wollen sie sich scheiden lassen. Dann erleidet auch noch Pauls Vater einen Gehirnschlag und fällt ins Koma – Paul reist nach Lyon zu seiner Familie, und er trifft nach vielen Jahren wieder seine Geschwister.

Vom Privaten spannt Michel Houellebecq elegant den Bogen zum Politischen. Vom Untergang der Beziehungen bis zur Schwerfälligkeit der Demokratie. Er schreibt über innere und äußere Bedrohungen, über Krankheit und Tod, Gott und Glaube, Schicksal und Fügung. Mit seinem Roman untersucht er die individuellen kleinen Höllen, in die nahezu alle Menschen eingesperrt sind, auch jene aus der Oberschicht und der politischen Elite. Auf diese Weise gelingt Houellebecq ein realistisches Gesellschaftsporträt inklusive differenziertem Familiendrama.

Für mich steht nach dieser Lektüre jedenfalls fest: Der merkwürdige Franzose ist einer der brillantesten Chronisten der Gegenwart, und er wird mit jedem Buch besser.

2 Gedanken zu “Brillanter Chronist der Gegenwart

  1. Michel Houellebecq ist tatsächlich ein Chronist, oder Seismograph, oder wie immer er in den einschlägigen Feuilletons noch bezeichnet wird. Nur erweist man ihm mit dieser Art Lob eher einen Bärendienst, denn es stimmt, „Vernichten“ liest sich wie eine Chronik, wie Exzerpte verschiedener Ideen, die so beim Nachrichten-Lesen zusammentrudeln. Was fehlt, und worüber der Chronist sich nicht kümmern braucht, ist der Zusammenhang des gestalteten Ganzen. In „Vernichten“ werden die Handlungsknoten weder geflochten noch aufgelöst – und die letzten beiden Kapitel, da stimme ich wiederum zu, lesen sich interessant und bewegend, nur besitzen sie keinerlei Zusammenhang (bis auf das Setting) mit dem vorher auf 500 Seiten Erzählten. Eine interessante und krasse Lektüre nichtsdestotrotz. Viele Grüße.

    • Danke für das Feedback! Stimmt, die letzten Kapitel lösen nicht das Vorherige auf, aber mich hat das nicht gestört. Im echten Leben ist das oft ganz genauso, finde ich. Dinge passieren oder enden, ohne logische Verbindung.

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