Entlarvende Vorurteile

„Sabrina und Gwenaelle, zwei Mädchen aus der dritten Klasse, lächelten mich ständig an. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.“

Riad hat es nicht leicht, nicht nur wegen der Mädchen. Der Sohn einer Französin und eines Arabers wird in Frankreich von Mitschülern für schwul gehalten und in Syrien von Araberkindern für einen Juden – verrückte, verkehrte, vorurteilsbeladene Welt. Die Folge: Riad ist schüchtern und verunsichert, und nirgends fühlt er sich willkommen, außer bei seinen französischen Großeltern.

Im vierten Teil seiner grandiosen Graphic-Novel-Serie „Der Araber von morgen“ (Penguin) entlarvt Riad Sattouf erneut das Denken in Vorurteilen. Der französische Illustrator erzählt von sich selbst, diesmal im Rückblick auf die Jahre 1987 bis 1992. Der kleine Riad pendelt zwischen den Welten und Kulturen. Zwischen Frankreich und Syrien, Islam und Christentum, Wohlstand und Armut. Sein Vater Abdel, der in Saudi-Arabien arbeitet, wendet sich immer mehr dem Islam zu. Er wird reaktionär und verbissen; er schimpft auf Juden und den Westen, und versucht seine Vorurteile auf Riad zu übertragen:

„Heirate niemals eine Französin. Sie wollen nur das, was sie wollen. Heirate später eine Syrerin! Die sind ohnehin schöner und schlauer als die Französinnen, aber vor allem folgen sie dir in allem, ohne sich jemals zu beklagen.“

Doch Riad lässt sich davon nicht beeinflussen. Er merkt, dass sein Vater ständig große Versprechungen macht, diese aber nie erfüllt. Abdel verkündet seit Jahren, seiner Familie eine Villa zu bauen, bald in Reichtum in den Ruhestand zu gehen, und Teil der großen islamischen, arabischen Welt zu werden. Indessen, nichts davon passiert. Abdel ist ein Sprücheklopfer, ein verblendeter Träumer, und er gefällt sich in seiner Opferhaltung. Denn schuld sind immer die anderen, vor allem die Juden, die Franzosen, die Frauen, der Westen, blablabla.

Zum Glück bleibt Riad ein ganz normaler Junge. Mit Pickeln, Anpassungsproblemen und einer Frisur wie Tom Cruise. Er verliebt sich unglücklich in eine Cousine, eine Schauspielerin, eine Mitschülerin. Und er zeichnet. Dass er damit später einmal Geld verdienen und international bekannt wird, weiß er nicht. Aber wir Leser wissen es, und das macht einen Teil der Faszination dieser autobiografischen Geschichte aus. „Der Araber von morgen“ wird mittlerweile in 21 Sprachen übersetzt. Riad Sattouf zeichnet und schreibt so berührend und belebend, so informativ und unterhaltsam, dass es immer wieder aufs neue ein großes Vergnügen ist, seinem Alter Ego zu folgen.

 

Hallo, kleiner Araber!

riad sattouf, der araber von morgen, rezension, günter keil Kann Riad Sattouf sein hohes Niveau halten? Das ist die spannendste Frage vor der Lektüre des dritten Bandes von „Der Araber von morgen“ (Knaus). Schnell ist klar: ja, er kann.

Der neueste Teil der international gefeierten Graphic Novel spielt in Syrien zwischen 1985 und `87. Sattouf erzählt darin einige weitere Kapitel seiner eigenen „Kindheit im Nahen Osten“, wie der Untertitel passend verspricht. Wie schon in den ersten Teilen lebt die Geschichte von der erfrischend klug-naiven Sichtweise des kleinen Riad. Und von den herausragenden, plakativen Illustrationen.

Trist, hart und karg wirkt Syrien, verbittert und aggressiv sehen die Menschen aus. Riad, der wegen seiner blonden Haare und seiner französischen Mutter („Eine Jüdin!“) gehänselt wird, freut sich auf Weihnachten. Er liebt DVDs aus den USA, allen voran „Conan der Barbar“. Sein Vater verspricht seiner Familie Wohlstand. Doch nichts wird besser, der Obstgarten blüht nicht auf und das Alltagsleben bleibt beschwerlich. Nur ein Ausflug in den Libanon bringt Abwechslung – und der Junge wird beschnitten.

Das Aufwachsen in einem heruntergekommenen Land, hin- und hergerissen zwischen der christlich-französischen und syrisch-muslimischen Kultur – das sind Riad Sattoufs Kernthemen. Scheinbar spielerisch, letztlich jedoch tiefgründig und schonungslos lotet er den Spielraum eines Kindes in dieser Welt aus. Sehr zu empfehlen, zum dritten Mal!

 

Mysteriöser Murakami

murakami, birthday girl, du mont, günter keil, literaturblogIch habe einen beliebigen Wunsch frei?“ Der Alte antwortete nicht. Er lächelte nur, beide Hände auf den Schreibtisch gelegt. Es war ein sehr natürliches, liebenswertes Lächeln. Haben Sie nun einen Wunsch, mein Fräulein, oder nicht?“, sagte er mit sanfter Stimme.

Murakami ist wieder da. Zwar nur mit „Birthday Girl“, einer alten Kurzgeschichte, aber herausragend neu illustriert. Etwa alle zwei Jahre erscheinen im DuMont-Verlag Murakami-Erzählungen in besonderer Ausstattung – schmale Büchlein, aufwändig hergestellt, kleine Kostbarkeiten. In „Schlaf“ und „Die unheimliche Bibliothek“ waren Kai Menschiks moderne Illustrationen düster, intensiv und verstörend. Nun sind sie nicht minder intensiv, aber mit pink-rot-orangener Graphic-Novel-Strahlkraft. Wie Exponate aus einer Galerie für Moderne Kunst.

Und die Geschichte? Nun, Murakami eben: klar formuliert, mysteriös aufgelöst. Eine junge Kellnerin arbeitet an ihrem Geburtstag im Restaurant. Der Geschäftsführer vertraut sie mit einer wichtigen Aufgabe – sie muss pünktlich um zwanzig Uhr dem Inhaber des Lokals das Abendessen in dessen Suite bringen. Aus dieser Begegnung stammt der oben genannte Dialog – was danach passiert, verrate ich natürlich nicht…

Das Freedom Hospital in Syrien

hamid sulaiman, freedom hospital, rezension, literaturblog, günter keil Bomben explodieren. Kugeln zerfetzen Körper. Blut spritzt. Menschen sterben.

All das sieht man in „Freedom Hospital“ (Hanser), der Graphic Novel des syrischen Illustrators und Malers Hamid Sulaiman. Man muss die Gewalt auch sehen, spüren, ahnen. Denn die Handlung spielt 2012 in Sulaimans Heimat. Im Norden des Landes existiert ein geheimer friedlicher Ort: Die Pazifistin Yasmin betreibt ein Untergrund-Krankenhaus zur Versorgung verwundeter Rebellen. In diesem „Freedom Hospital“ treffen unterschiedlichste Persönlichkeiten und Überzeugungen aufeinander – Konflikte bleiben nicht aus. Und die Klinik wird immer wieder beschossen. „Wir werden weitermachen, selbst wenn sie das Krankenhaus hundertmal zerstören“ ruft Jasmin trotzig.

In düsteren schwarz-weißen Bildern dokumentiert Hamid Sulaiman Bombardements, Propaganda und Zerstörung. Aber eben auch die Aufbruchsstimmung rund um das „Freedom Hospital“, köstliche Joints, makabere Witze, leidenschaftlichen Sex. Im Nachwort erklärt der syrische Illustrator: „Ich musste einfach all das hinausschreien, was mir seit Beginn der Revolution im Hals stecken geblieben war.“ Das ist ihm mit seiner kunstvollen Bildsprache eindrucksvoll gelungen. 

Für das Magazin MÜNCHNER FEUILLETON habe ich dazu eine ausführliche Rezension geschrieben.

Syrien, 1984-1985

arabEin tristes, heruntergekommenes Land. Voller Dreck, Armut, Hass und Korruption. Syrien, wie es der französische Zeichner Riad Sattouf 1984 und 1985 als Kind erlebt hat. Und Syrien, wie er es im zweiten Teil seiner herausragenden Autobiografie „Der Araber von morgen. Eine Kindheit im Nahen Osten“ (Knaus) zeigt.

Die Graphic Novel erzählt davon, was der kleine Riad mit seinen Eltern und seinem Bruder in Homs erlebt. Wie er eingeschult und von der sadistischen Lehrerin gequält wird. Wie sein Vater von einem erblühenden Syrien und seiner eigenen Luxusvilla träumt. Wie die Menschen versuchen zu überleben, und sich dabei gegenseitig belügen und betrügen. Das klingt negativ und einseitig, doch die staunende, kindliche Perspektive des kleinen blonden Jungen taucht die Erlebnisse in ein objektives Licht. Riad Sattoufs bunte, poppige Zeichnungen mögen auf den ersten Blick geradezu heiter wirken. Auf den zweiten jedoch nicht. Überhaupt nicht. Denn wie schon im ersten Teil wird deutlich, wie groß die Kluft im Syrien der 1980er ist: zwischen politischer Propaganda und Realität, zwischen Arm und Reich, zwischen Fortschrittsgerede und Rückständigkeit. „Der Araber von morgen“ beschönigt nichts. Eine Graphic Novel, nach deren Lektüre man mehr über die syrische Alltagskultur zu wissen glaubt – und versteht, warum so viele Menschen flüchten.

 

Krrrrrrrrrr! Uiiiii!!!!

riadSuuuuuper!!!! Ja, Ausrufezeichen gibt´s in diesem Buch zur Genüge. Ist ja auch eine Graphic Novel. Eine der besten der vergangenen Jahre. Soeben ausgezeichnet mit dem wichtigsten europäischen Comicpreis „Fauve d’or“. „Der Araber von morgen“ (Knaus) ist ein optisches, inhaltliches und haptisches Erlebnis. Der Pariser Comic-Zeichner Riad Sattouf erzählt darin von seiner Kindheit in Frankreich, Libyen und Syrien.

1978: Riad ist zwei Jahre alt, Sohn einer Französin und eines Syrers. Sein Vater führt die Familie nach Tripolis, wo er an der Universität lehrt und von einem vereinigten Arabien schwärmt. Für Riad und seine Mutter ist der Alltag im Libyen Gaddafis jedoch hart. Als die Familie nach ein paar Jahren in Assads diktatorisches Syrien umzieht, kommt es noch schlimmer: Dreck, Armut, Gewalt. Doch der Vater lügt sich die Realität schön.

Riad Sattouf zeigt seine Erlebnisse aus kindlicher Perspektive. Der knollennasige Junge blickt staunend auf die Erwachsenenwelt, auf Chaos und Gewalt, auf Polit-Propaganda, Judenhass und Frauenverachtung. Die Zeichnungen sind genial: Mal liebevoll-märchenhaft, mal reduziert-modern, mal drastisch, mal verträumt. Sattouf, der bis 2014 zehn Jahre lang auch für Charlie Hebdo zeichnete, vereint Anspruch und Unterhaltung, Witz und Tiefgang wie kein anderer. Wie gesagt: Suuuuper!!!