Stewart O′Nan über zwei Schwestern

Der erste Satz eines Romans entscheidet stark mit darüber, ob ich weiterlese. Beim Start von Stewart O′Nans neuem Roman „Ocean State“ (Rowohlt, Übersetzt von: Thomas Gunkel) war sofort klar, dass ich mehr wissen will – der Einstieg lautet:  „Als ich im achten Schuljahr war, half meine Schwester dabei, ein anderes Mädchen zu töten.“

Ein Mord definiert also diese Geschichte, doch es ist kein Thriller, kein Krimi, manchmal dachte ich, ich bin in einer literarischen Familienaufstellung, in einem vielschichtigen Spannungsroman, in einer Sozialstudie über zwei Schwestern und in einem verhängnisvollen Beziehungsroman. Das alles kriegt Stewart O′Nan auf nur 250 flugs weggeschmökerten Seiten unter.

Die Story spielt in Westerly, einer Arbeiterstadt in Neuengland. Dort leben die Schwestern Marie und Angel mit ihrer Mutter Carol in einem heruntergekommenen Haus. Alle drei sind gut im Vertuschen – sie lügen und bagatellisieren, wenn es um ihre Probleme geht: Marie futtert zu viel, Carol ist Alkoholikerin und Angel, die 18 jährige, wird zur Täterin, als sie mit ihrem Freund das Mädchen tötet, mit dem er eine Affäre hatte.

Aus den wechselnden Perspektiven der vier Mädchen und Frauen untersucht Stewart O′Nan die Grauzonen zwischen Schuld, Mitschuld, Reue und Gerechtigkeit. Er schildert die Seelenqualen seiner Figuren, ohne sie auszubeuten. Hinter seinem feinen, reinen Stil lauern die Abgründe, in die uns die Liebe treiben kann.

Ich habe den Roman in meiner Literatursendung bei egoFM vorgestellt – ihr hört die Show hier im Stream (ohne Musik).

Ruhiges Rentnerleben

„Sein Leben lang hatte er sich bemüht, das Richtige zu tun.“

Kann man 470 Seiten über einen ganz normalen Rentner schreiben, ohne dass es langweilig wird? Der große amerikanische Erzähler Stewart O´Nan kann das. In „Henry, persönlich“ (Rowohlt) porträtiert er das Alltagsleben von Henry Maxwell liebevoll, präzise und feinsinnig.

Dieser Henry ist kein Held und kein Kämpfer, aber einer, der versucht, im altmodischen Sinne anständig zu sein. Er achtet aufs Geld, lädt seine Frau Emily zum Valentinstag in ein nobles Restaurant ein, repariert alle kaputten Gegenstände im Haus, engagiert sich im Kirchenvorstand, spielt Golf mit alten Kollegen – und freut sich auf die Zeit im Sommerhaus am See mit seinen Kindern und Enkeln.

Ein feiner, leiser Ehe- und Familienroman übers Zusammenleben und Zusammenaltwerden, über die Annehmlichkeiten des Vertrauens und das Wissen, dass das Glück befristet ist.

Henry ist friedlich, bescheiden und vernünftig. Stewart O´Nan zeigt ihn in einer stillen Sprache, mit wohlgesonnenem Blick und als aufmerksamer Beobachter. Ein entschleunigter Roman, der realistisch vom ruhigen Rentnerleben erzählt. Eine wunderbare Ergänzung zu O´Nans Bestseller „Emily, allein“, in dem der US-Schriftsteller schon im Jahr 2011 Henrys Frau porträtierte.

 

Jerusalem, 1946

Ein alter Peugeot tuckert 1946 durch die Straßen Jerusalems. Ein Taxi, und am Steuer sitzt Jossi. Der lettische Holocaust-Überlebende fährt Touristen zu den Sehenswürdigkeiten und erzählt Anekdoten. Doch Jossi ist ein schwermütiger Mann, der alles verloren hat: Seine Heimat, seine Frau, seine Familie. In Jerusalem möchte er eigentlich nur überleben. Und vergessen. Doch schon kurz nach seiner Ankunft tun sich neue Abgründe au

„Sein altes Leben war vorbei, sein neues ein Scherbenhaufen und Schwindel“ schreibt US-Autor Stewart O’Nan in „Stadt der Geheimnisse“ (Rowohlt). Denn Jossi unterstützt eine zionistische Untergrundorganisation – als Gegenleistung dafür, dass sie ihm den Neustart und das Taxi finanziert. Die gewalttätige Gruppe kämpft gegen die britische Mandatsregierung von Palästina und für einen unabhängigen jüdischen Staat Israel. Ab und zu bekommt Jossi streng geheime Aufträge. Mal soll er eine Bombe oder Pistole transportieren, später einen Zug überfallen oder Gleise sprengen. Stewart O’Nan schildert diese Einsätze in einer knappen, klaren Sprache – er bleibt mit seiner Prosa so nüchtern wie Jossi selbst. Noir-Stimmung macht sich breit.

Der Roman besticht neben der bewegenden Darstellung von Jossi durch die atmosphärische Schilderung der Situation im Jerusalem der Jahre um 1945: „Die Stadt war ein aus Symbolen zusammengesetztes Puzzle, ein Durcheinander aus Alt und Neu, aus Panzerwagen und Eseln in den Straßen, aus Beduinen und Bankiers.“ Oder: „Trotz aller Wunder war Jerusalem klein.“

Wenn O’Nan seinen traurigen Helden durch die Gassen fahren lässt, sieht man die heilige Stadt bildhaft vor sich, mit all ihren Gegensätzen und Gefahren. Ein kurzer Roman von lang anhaltender Intensität.

 

Bittersüßes Ehedrama

nan2Ein Mann, eine Frau. Eine Ehe, die am Ende ist. Und eine letzte Reise des Paares zu den Niagarafällen. Darum geht´s in Stewart O´Nans neuem Roman „Die Chance“ (Rowohlt). Marion und Art Fowler, die Hauptfiguren, fahren mit dem Bus zu den Niagarafällen. So wie vor 30 Jahren auf ihrer Hochzeitsreise. Doch seitdem hat sich alles verändert, was sich im Leben eines Paares verändern kann. Marion und Art sind arbeitslos, ihre Beziehung ist zerrüttet, ihre Kinder sind aus dem Haus, ihre Altersvorsorge ist futsch. Keiner von beiden hat noch Illusionen oder Träume. Eine letzte Hoffnung verbindet sie allerdings: In den Casinos bei den Niagarafällen wollen sie ihr letztes Bargeld setzen. Werden sie so die Schulden loswerden? Und ihre Ehe retten? Stewart O´Nan ist eine bewegende, genial beobachtete Ehestudie gelungen. Mit feiner Ironie und einem genialen Gespür für die kleinen, typischen Paarmomente von Marion und Art. Ein bittersüßes Ehedrama, das berührt und bisweilen erheitert.