Elizabeth & Jack aus Chicago

„Kunstschmerz nennt er dieses dumpfe Ziehen im unteren Rücken, das man bekommt, wenn man stundenlang in steifer Pose in einem Museum herumgestanden hat.“

„Wellness“, der 730 dicke Seiten Roman von Nathan Hill, ist ein Wunderwerk. Denn in ihm steckt so vieles: Eine Liebesgeschichte, ein Gesellschaftsporträt, eine psychologische Studie, eine Reflexion über Kunst, und, vor allem: ganz große Unterhaltung.

Jetzt aber von vorne: Im Chicago der 1990er Jahre verlieben sich Jack und Elizabeth ineinander – er studiert Fotografie und Kunst, sie Psychologie. Schnell ist klar: Die beiden sind das perfekte Paar; sie stürzen sich in die Clubs und Galerien, schmieden Pläne für ein aufregendes unkonventionelles Leben, bekommen ein Kind. 15 Jahre später ist ihr leichter, mühleloser Alltag jedoch frustrierend und schwer. Der Zauber des Verliebtseins ist verflogen, stattdessen nervt die Normalität.

Aber warum läuft es bei Paaren wie Elizabeth und Jack fast immer so? Über seinen abwechslungsreichen Plot stellt Nathan Hill wichtige Fragen: Warum entscheiden wir uns für eine bestimmte Partnerin? Wie gestalten wir unsere Liebe und was können wir tun, um nicht als Paar zu scheitern?

Mit einer Fülle von Szenen dokumentiert Nathan Hill den Lebensweg von Jack und Elizabeth, mal mit feiner Lakonie, mal verständnisvoll und romantisch, mal schonungslos und immer getragen von ungezügelter Erzähllust. Eine kluge und komplexe Beziehungsgeschichte mit überraschenden Placebo- und Wellnesseffekten, denn Elizabeth arbeitet in einem Forschungsinstitut, das auf den Placeboeffekt spezialist ist und „Wellness“ heißt.

(Erschienen bei Piper, übersetzt von Dirk van Gunsteren und Stephan Kleiner)

Ich habe den Roman in meiner Literatursendung bei egoFM vorgestellt – ihr hört alle Folgen der Show hier im Stream (ohne Musik).

Brisantes Gerichtsdrama

„In meinem Bauch regt sich Kampfgeist. Es muss sich etwas ändern. Nicht nur im Justizwesen, sondern auch in der Gesellschaft.“ (Suzie Miller / Prima Facie, erschienen bei Kjona)

Tessa, eine junge, erfolgreiche Anwältin, hat es geschafft: Mit Disziplin und Ehrgeiz hat sie sich aus der Arbeiterklasse hochgearbeitet und übernimmt als Strafverteidigerin Fälle für eine exklusive Londoner Kanzlei. Ihre Kreuzverhöre sind legendär, und der Adrenalinrausch nach einem gewonnenen Fall pusht sie. Innerlich bleibt Tessa allerdings unsicher, sie spürt die Klassenunterschiede und sozialen Codes, und sie merkt, dass sie noch immer anders geprägt ist als ihre Kolleg*innen.

Als sie eine Affäre mit ihrem Kollegen Julian beginnt, fühlt es sich aufregend und gut an. Denn Julian stammt aus einer angesehenen privilegierten Juristenfamilie. Doch dann spaltet eine einzige Nacht mit Julian ihr Leben in ein Vorher und Nachher: Er vergewaltigt sie, und Tessa geht das Risiko ein, ihn anzuzeigen, vor Gericht zu ziehen. »Das Gesetz ist dazu da, alle Menschen zu beschützen. Oder?« fragt Tessa, und sie ahnt schon, dass die Antwort nicht eindeutig zu ihren Gunsten ausfallen wird. Nun steht sie auf der anderen Seite, als Belastungszeugin, und wird mit dem gnadenlosen Justizsystem konfrontiert, das noch immer patriarchalisch geprägt ist.

Suzie Miller überzeugt mit klarer, griffiger Sprache, sie schreibt lebhaft und lebensnah, und sie steigert ihren Plot bis zur Hochspannung. Ihr intensiver Roman schildert Tessas Kampf um Gerechtigkeit und macht tatsächlich klar, dass sich etwas ändern muss. Ja: Nicht nur im Justizwesen, sondern auch in der Gesellschaft. (Übersetzt von Katharina Martl.)

Ich habe den Roman in meiner Literatursendung bei egoFM vorgestellt – ihr hört alle Folgen der Show hier im Stream (ohne Musik).

Leben auf Messers Schneide

„Ich sagte, dass mich noch nie jemand gefragt hatte, was ich werden wollte, wenn ich groß war, darum wüsste ich es nicht. Hauptsache, noch am Leben.“

Barbara Kingsolvers neuer Roman „Demon Copperhead“ (dtv) ist ein Ereignis, ein Erlebnis, und er setzt neue Maßstäbe für Tragikomik. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals über 800 Seiten lang so gebannt und begeistert von einem Werk war. Doch kein Wunder, denn Barbara Kingsolver beherrscht ihren Job wirklich meisterhaft: Sie hat einen mitreißenden Ton, der permanent Lust aufs Weiterlesen erzeugt, und ihren sympathischen Antihelden aus den Appalachen muss man einfach lieben.

Der Junge heißt – wie der Titel – Demon Copperhead. Er erzählt selbst von seinem „beschissenen“ Leben als Hinterwäldler in Virginia, in seinem eigenen Sound: Flapsig, frech, lakonisch, unverstellt und schonungslos berichtet er davon, wie das so ist, wenn man in prekären asozialen Umständen aufwächst. Seine Mutter ist drogenabhängig und lebt in einem Trailer (wo Demon zur Welt kam), sein Vater ist tot, und der neue Typ seiner Mum schlägt ihn. Also wird Demon bei verschiedenen zwielichtigen Pflegefamilien geparkt, muss als Kind wie ein Erwachsener schuften und lernt, dass das Leben brutal ist.

Als Teenager wendet sich das Blatt: Demon macht Karriere als Footballer, verliebt sich und glaubt zum ersten Mal, dass er es doch schaffen kann, für sich selbst zu sorgen und ein anständiger Mensch zu sein. Aber schon drohen der nächste Absturz und neue Abgründe. Barbara Kingsolver schickt Demon auf eine atemberaubende Achterbahnfahrt. Sie erzählt vom Überlebenskampf in einer gnadenlosen Gesellschaft, von Kinderarmut, Kinderarbeit, der Opioidepidemie und einem Leben auf Messers Schneide. Trotzdem macht dieser Roman richtig Spaß, denn er ist prall gefüllt mit Wortwitz und übersprudelnder Lebenskraft. Ein Ausnahmewerk, und nebenbei eine Sozialstudie, kongenial übersetzt von Dirk van Gunsteren.

Ich habe den Roman in meiner Literatursendung bei egoFM vorgestellt – ihr hört alle Folgen der Show hier im Stream (ohne Musik).

Rumäniendeutscher Rückblick

„Vor vier Wochen dann die Karte mit dem Satz: Wann kommst du? Nur drei Worte und ein Fragezeichen. Er hatte den Satz wieder und wieder gelesen. War er über längere Zeit gereift oder aus einer Laune heraus geschrieben worden? Meinte sie damit die nähere oder unbestimmte Zukunft? Hieß der Satz, dass sie ihn vermisste oder brauchte?“

Siebenbürgen – das ist die Heimat von Lev und Kato, den Hauptfiguren in Iris Wolffs neuem Roman „Lichtungen“ (Klett-Cotta). Sie stammen aus demselben Dorf und kennen sich seit Kindertagen. Sie sind mit einem Sprachgefühl für Rumänisch und Deutsch aufgewachsen, dazu ein bisschen Ungarisch und Österreichisch. Doch das ist lange her; nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat Kato die Heimat verlassen, um quer durch Europa zu reisen, während Lev geblieben ist. Erst Jahrzehnte später trifft Lev seine Jugendfreundin wieder. Er begleitet die Straßenmalerin durch Frankreich und die Schweiz und erinnert sich an früher, an ihre ersten Begegnungen.

Iris Wolff erzählt poetisch und melancholisch von Lev und Kato, von ihrer zeitlosen Freundschaft, die vielleicht sogar Liebe ist. Mit einem feinen Blick für die Menschen und die Landschaft fängt die 46-jährige das siebenbürgische Dorfleben ein, die Hofhunde und Pferdewagen, die Storchennester auf Strommasten, die Kirchen und Katzen. Über ihre beiden Hauptfiguren Lev und Kato widmet sich Wolff den Lebensläufen, dem Gehen und Bleiben, der Herkunft und Ankunft. Dazu setzt die Schriftstellerin, die selbst im rumänischen Hermannstadt geboren wurde, einen erzählerischen Trick ein: Ihr Roman beginnt in der Gegenwart und wird von da an rückwärts erzählt. Ein beglückendes Buch.

„Wolken zogen auf, die Straße wurde dunkel. In dieser Dunkelheit ließ sich die Distanz besser überwinden zwischen Zugehörigkeit und Fremdsein, Erinnern und vergessen.“

Reise ins Unterbewusstsein

„Waren wir ein Liebespaar? Konnte man das so nennen? Ich weiß es nicht. Doch zumindest waren wir, du und ich, fast ein Jahr lang unzertrennlich. Und irgendwann schufen wir uns eine besondere geheime Welt, nur für uns beide – die wundersame Stadt, umgeben von der hohen Mauer.“

Soeben ist der neue Roman von Haruki Murakami, „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ (DuMont). Gleichzeitig feiert der Großmeister der bewusstseinserweiternden Literatur seinen 75. Geburtstag. Mich hat sein neues Werk tief berührt und begeistert, ja, ich finde sogar, es ist sein bestes Buch, sein zärtlichstes und stillstes, brillant aufgebaut, auch stilistisch sein Opus Magnum. Der Plot spielt an drei Standorten, zu unterschiedlichen Zeiten:

In der Vergangenheit, an die sich der Ich-Erzähler wegen seiner Jugendliebe erinnert. In einer geheimen ummauerten Stadt, wo das wahre Ich der jungen Frau lebt. Und in einem abgelegenen Bergdorf, in dem der Erzähler in der Gegenwart als Bibliotheksleiter lebt. Diese drei Orte verbindet Murakami elegant mit magischem Realismus, und er führt uns gekonnt ins Reich des Unbewussten, tief unter der Oberfläche. Eine souveräne literarische Erkundung von Liebe, Tod, Träumen und Sehnsucht, in der die Hauptfigur ähnliche Erfahrungen macht wie die Lesenden des philsosophischen Werks: „Es fühlte sich verdreht an, als wären Zeit und Raum leicht verschoben. Die Dinge schienen sich zu vermischen. Teile der Grenzen bröckelten oder verschwammen, sodass die Realitäten hier und da ineinanderzufließen begannen.“

Für Murakami-Kenner*innen: Die Teile des Romans, die in der Stadt mit ihrer ungewissen Mauer spielen, basieren auf einer Erzählebene aus dem 1985er Roman „Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt“. Wie Murakami im Nachwort schreibt, hat ihn die Grundidee der Stadt nicht losgelassen, und er fand, er müsse sie noch einmal neu aufgreifen. Eine kluge Entscheidung! Übersetzt von Ursula Gräfe.

„Ich setze mich auf einen Stuhl, befreie mein Bewusstsein aus dem Käfig meines Körpers, um es auf der weiten Wiese meiner Gedanken umherschweifen zu lassen – so wie man einen Hund von der Leine und frei laufen lässt.“

Dankeschön, 2023!

Wenn ich auf dieses Jahr zurückblicke, dann bin ich dankbar und demütig. Denn 2023 habe ich mit wunderbaren Menschen zusammengearbeitet, hatte erfüllende Jobs, habe auf meinen Reisen zu Moderationen viel erlebt. Klar, es gab auch dunkle Momente, aber hier schreibe ich nur über das, was gut tat.

In der egoFM Buchhaltung habe ich 80 neue Bücher empfohlen und mich über 40 Special Guests gefreut, darunter Zoë Beck, Markus Kavka, Dennis Lehane, Judith Hermann, Marc Elsberg und Trevor Horn. Mit meinem Redakteur Fabian Broicher ist es immer ein Vergnügen, und natürlich war es wieder ein Traum, Teil des egoFM Teams um Programmchef Fred Schreiber zu sein.

Dass ich nun schon im vierten Jahr mit der großartigen Karla Paul unseren Podcast „Long Story Short“ moderiere, freut mich riesig. Vielen Dank an den Support von Penguin – auch mit Karin, Hanna und Julian ist es eine Freude!

Live auf der Bühne mit Autor*innen zu sein, genieße ich sehr. 2023 hatte ich die Ehre, u.a. folgende Stars zu moderieren: Judith Hermann, Simon Beckett, Charlotte Link, Frank Schätzing, Oliver Masucci und Hallgrimur Helgason. Nicht weniger erfüllend sind die Abende in kleinerem Rahmen. Besonders viel Spaß macht mir die Reihe „Debatten für Leseratten“ des cbj Verlags (Penguin Kinderbuch), in der ich für Schulklassen mit Kinderbuchautor*innen plaudere. Hinzu kamen zwei Bücherabende mit Verena Geiger, bei denen wir unserem Publikum im Literaturhaus Herne Ruhr e.V jede Menge Neuerscheinungen empfohlen haben. Woran ich mich noch gerne erinnere: Das geniale Filmfest München, der sonnige Buchnachmittag im Hotel Garni Stäfeli, die bewegende Moderation für die Jüdische Kultusgemeinde München, das Webinar mit Diplom-Psychologin Dr. Bärbel Wardetzki, das inzwischen von von mehr als 147.000 Usern auf Youtube geguckt wurde, und der Buchhändler*innen-Abend mit US-Bestsellerautorin Shelley Read. Und und und…

Für Print- und Onlinemedien habe ich auch wieder Bücher rezensiert, wofür ich allen Redakteur*innen herzlich danke.

All das macht mich dankbar und demütig, auch, dass ihr hier verfolgt, was ich so treibe. Und, in einem größeren Rahmen, dass ich das Privileg habe, aus meiner Leidenschaft einen Beruf formen zu können. Und, in einem noch größerem Rahmen, dass ich in Frieden in einer Demokratie lebe – lasst uns beides aktiv schützen und bewahren, gegen alle extremistischen Tendenzen! Ich verabschiede mich jetzt in meine Social Media Winterpause und wünsche euch eine entspannte Zeit. Möge das Buch mit euch sein!

So wurde Island modern

Willkommen in einem kleinen isländischen Fjord, Anfang des 20. Jahrhunderts. Hier, in Hallgrímur Helgasons Roman „60 Kilo Kinnhaken“ (Tropen), lebt der 18-jährige Gestur, ein Arbeiter, der seine Familie mit verschiedensten Jobs über Wasser hält. Viel wichtiger: Ständig verliebt er sich neu und macht seine ersten sexuellen Erfahrungen. Der Alltag kommt Gestur wie ein großes Abenteuer voller Chancen vor, denn dauernd passiert etwas Unvorhersehbares, und tatsächlich löst die Heringsfischerei einen Goldrausch im zuvor armen Island aus. Norweger und Dänen kommen mit ihren Schiffen, um Geschäfte zu machen, sie bauen Häuser und Fabriken, saufen mit den Einheimischen bis zum Umfallen und prügeln sich bis in die Nacht. Mittendrin Gestur, der in der in der Fischerei schuftet, Telegramme überbringt und davon träumt, sich endlich ein Haus aus Holz leisten zu können, statt der Torfhütten, in denen er und die meisten Isländer noch leben.

Im zweiten Teil seiner großen Trilogie begleitet Hallgrímur Helgason seine Hauptfigur von 1906 bis 1918; er schreibt süffig, ironisch und höchst unterhaltsam vom Übergang Islands in die Moderne, von verschrobenen Gestalten, seltsamen Bräuchen, von „Branntwein, Blut und Beischlaf“, wie es treffend heißt. 670 Seiten isländische Geschichte, erzählt mit einem großen Augenzwinkern, vielen Kinnhaken und dennoch großer Nähe zur verbürgten historischen Realität. Übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig.

Ich habe den Roman in meiner Literatursendung bei egoFM vorgestellt – ihr hört alle Folgen der Show hier im Stream (ohne Musik).

Weihnachten in Prag

Für sein aktuelles Werk kehrt der in Berlin lebende Schriftsteller Jaroslav Rudiš in die Hauptstadt seiner Heimat zurück. Der Plot spielt am Heiligen Abend in Prag. Die Straßen sind fast leer, es ist kalt, leichter Schnee fällt.  Ein Mann, der Ich-Erzähler Jaroslav Rudiš selbst, schlendert durch die Stadt, in der er einmal als Junge mit seinem Vater war, und in der er damals für ein paar Stunden verloren ging. Jetzt fährt er mit der Trambahnlinie 22 von der Moldau zur Prager Burg, dann wieder zurück, am Nationaltheater und am Karlsplatz vorbei, und er kehrt in einer Kneipe ein. Das Bier wärmt ihn, oder er wärmt das Bier, so genau weiß er das nicht, aber sicher ist, dass in seiner Nähe ein Mann sitzt, der leuchtet wie eine helle Lampe. Er heißt Kavka, aber er findet es in Ordnung, dass ihn alle Kafka nennen, wie der berühmten Schriftsteller.

Zu zweit ziehen die beiden Männer fortan durch das stille Prag, sie lassen sich Zeit und nehmen die besondere Stimmung wahr: „Und dann schweigen wir und schauen auf die Moldau und auf die Stadt, und ein Zug fährt über die Brücke, und im Lärm geht alles verloren. Nur die Stadt, die Stadt bleibt. Und der Fluss. Und das Licht.“ Die Moldau glänzt im Licht der Laternen, und als der Erzähler und Kafka weiter spazieren, fällt ihnen auf, dass die Kirchen von innen strahlen, dass überall in der Stadt ein gelbes, warmes, beschützendes Licht zu leuchten scheint. Das Licht der Straßenlampen und Straßenbahnen, der Weihnachtsbäume und Kerzen auf den Friedhofsgräbern, „ein Licht, das keinen Anfang und kein Ende hat. Das ewige Licht von Prag.“, wie Rudiš wehmütig schreibt. Nachdem sie in einem Wirtshaus weitere Biere zu sich genommen haben, gesellen sich zwei weitere Nachtgestalten zu ihnen: Ein warmherziger Gauner und eine wehmütige Italienerin. Gemeinsam schlendern sie weiter, treffen auf Bauarbeiter und Straßenmusiker und sprechen über den Tod, die Liebe, die Einsamkeit und den Zauber der Stadt. Zudem erzählen sie sich die Legende des Christkinds, das immer am Heiligen Abend in einer bestimmten Prager Kneipe einkehrt, ein kleines Bier bestellt, mit den Anwesenden trinkt, und sogleich wieder mit der Straßenbahn entschwindet.

Diese einzigartige Geschichte wirkt mit ihrer Melancholie und ihrem leisen Humor wohltuend und versöhnlich. Der Miniaturroman ist nicht nur eine Hommage an die Stadt Prag, sondern auch an all die Gestrandeten und Randfiguren, die an Weihnachten irgendwo in einer Kneipe sitzen oder Anschluss suchen. Ein kostbares Büchlein, wie ein Geschenk, liebevoll gestaltet mit modern-meditativen Illustrationen des tschechischen Künstlers Jaromir Svejdík, der mit Jaroslav Rudiš privat befreundet ist – beide spielen zudem in der Alternative Rockgruppe „Kafka Band“. Ihr kongeniales Weihnachtswerk lebt auch von dem alternativen, klischeefreien Raum, den ihre Protagonisten in der ruhigsten Nacht des Jahres durchwandern.

Ich habe den Roman im Podcast LONG STORY SHORT und in meiner Literatursendung bei egoFM vorgestellt – ihr hört die Show hier im Stream (ohne Musik).

Kochen mit Kanaan

Nanu, ein Kochbuch im Literaturblog? Das ist doch nicht normal. Stimmt. Aber was ist schon normal, in diesen Zeiten? Dazu passt folgende Geschichte: Ein Israeli und ein Palästinenser kochen im gemeinsamen Restaurant in Berlin. Kann das wahr sein, gerade nach den letzten Wochen, in denen der Terror im Nahen Osten eine neue Eskalationsstufe erreicht hat, in der auch in Deutschland der Antisemitismus beängstigend zunimmt?

Selbstverständlich ist das wahr, so wahr wie viele tausend weitere Freundschaften zwischen Israelis und Palästinensern auf der ganzen Welt – diese spezielle Freundschaft ist nicht nur eine menschliche, sondern auch eine kulinarische. Wie gut, dass Oz Ben David und Jalil Dabit davon erzählen – in „Kanaan, das israelisch-palästinensische Kochbuch“ (Süd West).

Oz Ben David und Jalil Dabit kochen seit Jahren erfolgreich im „Kanaan“ im Prenzlauer Berg. Die beiden Restaurantbetreiber zeigen, dass Rezepte und Essen verbinden, dass viel Gemeinsames in ihren unterschiedlichen Küchenkulturen steckt. Beide sind mit Hummus aufgewachsen, und sie schreiben, dass Hummus Grenzen überwindet und ein Gefühl der Einheit vermittelt, einer gemeinsamen Erfahrung, die uns alle verbindet. Zudem verraten die Köche ihre Rezepte von Sabich, Msabacha, Baba Ganosch, Rote Beete Suppe, Linsenpastete, Fenchel mit Yoghurt, Blumenkohl mit Tahini… Wenn man die großartigen Bilder in diesem Kochbuch sieht, glaubt man das sofort – alles sieht köstlich aus, und den beiden Köchen macht ihre Arbeit spürbar Spaß.

Also: Mehr als 50 Appetit anregende Rezepte, dazu kurze Anekdoten aus der Kindheit der Autoren – von den Küchen, Märkten, Rezepten und Gerüchen, mit denen sie in Israel und Palästina aufgewachsen sind. Genau das richtige Buch in diesen Zeiten.

Ich habe den Roman im Podcast LONG STORY SHORT und in meiner Literatursendung bei egoFM vorgestellt – ihr hört die Show hier im Stream (ohne Musik).

Frauenschicksale im Marschland

Jarka Kubsovas „Marschlande“ (S. Fischer) ist ein historischer Roman. Und gleichzeitig ein sehr moderner. Es ist ein Roman mit zwei Geschichten über zwei Frauen, die gezwungen werden zu kämpfen – gegen Traditionen, Männer, Rollenbilder, den Wind und das Wetter. Die beiden Geschichten wechseln sich ab, und sie spielen in der gleichen Region – im Hamburger Marschland, wo sich die Elbe durch dünn besiedeltes Gebiet schlängelt.

Britta und Abelke heißen die Frauen; Britta ist mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern aufs Land gezogen, und die karge Landschaft ist ihr noch fremd. Doch die Geographin beobachtet die Natur und lernt, die Spuren der Vergangenheit zu lesen. Dabei stößt sie auf die (reale!) Sage von Abelke Bleken, einer Frau, die vor 500 Jahren im Marschland lebte. Sie bewirtschaftete allein einen großen Hof und war unabhängig, bis sie von den mächtigen Männern des Dorfes enteignet und als Hexe gebrandmarkt wurde.

Jarka Kubsova erzählt vielschichtig und dramatisch von Ausgrenzungen und Ungerechtigkeiten, von Parallelen zwischen Britta und Abelke, vom Schicksal von Frauen, damals und heute. Ein raffiniert konstruierter, kluger Roman, aus dem man viel lernen kann: Übers Marschland und über die Dringlichkeit von Gleichberechtigung.

Ich habe den Roman in meiner Literatursendung bei egoFM vorgestellt – ihr hört alle Folgen der Show hier im Stream (ohne Musik).