Young Mungo

„In seinem Wesen lag eine Sanftheit, die die Mädchen entspannte; sie wollten ihn zum Haustier machen. Doch genau dieses Zarte war es, das anderen Jungs unangenehm war.“

Vor zwei Jahren schaffte der schottische Schriftsteller Douglas Stuart eine Buchbranchen-Sensation: Sein Debütroman „Shuggie Bain“ wurde mit dem Booker Preis ausgezeichnet und daraufhin in 40 Ländern veröffentlicht – ein literarischer Weltbestseller. Jetzt meldet sich Stuart mit „Young Mungo“ (Hanser Berlin) zurück, und wieder spielt seine Geschichte im schottischen Arbeitermilieu. Diesmal allerdings zehn Jahre später als „Shuggie Bain“, in der 1990ern.

„Weichei, Heulsuse, Schlappschwanz, Schwuchtel“. Mungo bekommt diese Schimpfwörter täglich an den Kopf geknallt. Denn für die Macho-Welt in den Arbeitervierteln Glasgows ist der 15jährige zu leise, zu nachdenklich und zu sanft. Sein Bruder Hamish, ein gefürchteter Bandenführer und Drogendealer, will ihn zum Mann machen und schleift ihn zu den brutalen Kämpfen zwischen Protestanten und Katholiken.

Mit einer feinen Erzählstimme porträtiert Douglas Stuart Mungo als verlorenes Wesen inmitten von Armut und Gewalt. Mungo sehnt sich nach Liebe, er möchte den grauen Straßen entkommen, endlich das permanente Gefühl von Scham und Unsicherheit hinter sich lassen. Mit James, einem Jungen aus der Nachbarschaft, gelingt ihm das endlich. Zwischen den beiden entsteht eine Wärme, die Mungos Körper flutet, eine Zuneigung, die er nicht kennt und zum ersten Mal eine Ahnung von ein bisschen Glück.

Doch im homophoben Glasgower Alltag ist so eine Beziehung unmöglich, undenkbar, und vor allem lebensgefährlich. Können Mungo und James den Hass und die Gewalt, die ihnen entgegenschlägt, überleben? Douglas Stuart schreibt schonungslos schön über Liebe und Not in einem schäbigen, menschenverachtenden Umfeld. Man könnte den Roman als Sozialstudie lesen oder als ein herausragendes Beispiel für queere Geschichten, doch vielmehr steckt dahinter schlicht: große Literatur (übersetzt von Sophie Zeitz).

Ich habe den Roman in meiner Literatursendung bei egoFM vorgestellt – ihr hört die Show hier im Stream (ohne Musik).

Unberechenbar, diese Frau

„In dem Moment, in dem die Gesellschaft das Interesse an mir verloren und die Welt mich als unwichtig abgehakt hatte, habe ich mich mehr im Einklang mit mir selbst gefühlt als je zuvor.“ (Dana Spiotta, Unberechenbar, Kjona, übersetzt von Andrea O´Brian)

„Ich wollte ein bisschen egoistisch sein, ein bisschen exzentrisch.“ Das sagt Sam, eine 53jährige Amerikanerin, die ihren Mann und ihre Tochter im gemeinsamen Vorstadthaus sitzenlässt, um endlich selbstbestimmt zu leben. Sam kauft sich ein heruntergekommenes Haus im Problemviertel von Syracuse, schließt sich Widerstandsgruppen für Ü50 Frauen an, demonstriert gegen Donald Trump, hört Hardcore-Fitness-Podcasts und zieht nur noch Jeans und Pullis an.

Dana Spiotta begleitet ihre sympathische Hauptfigur, mit hochwertiger Heiterkeit. Sie lässt Sam von ihrem Ausbruch, ihrem Neuanfang erzählen, voller Sprachwitz und Selbstironie. Aber: Kann man sich überhaupt ändern? Als Frau aus der wohlstandssaturierten Mittelklasse, als Mutter und Ehefrau? Kann man sich einfach so abkoppeln von der Selbstoptimierung, vom Kampf gegens Älterwerden? Diese Fragen und weitere kluge Gedanken treiben den furiosen Plot voran. Und Sam? Die wird immer unberechenbarer.

So entwickelt sich ein lebendiger, ironisierter Roman über eine Befreiung und den Gegenentwurf zum Status Quo. Mit vielen tragikomischen Momenten, berührenden Mutter/Tochter-Szenen und der Erkenntnis, dass es nicht leicht ist sich neu zu erfinden oder im Einklang mit sich selbst zu sein.

Ich habe den Roman in meiner Literatursendung bei egoFM vorgestellt – ihr hört die Show hier im Stream (ohne Musik).

Gibt es nur ein Leben oder mehrere Versionen davon?

„Bücher kommen uns sehr nah, sagt Wechsler, viel näher als Bilder oder Filme. Sie kriechen in unsere Köpfe, verändern unsere Gedanken, wecken Bilder, erzeugen Phantasien.“ (Peter Stamm, In einer dunkelblauen Stunde, S.Fischer)

Was bleibt von Menschen, Büchern und Filmen? Gibt es nur ein Leben oder mehrere Versionen davon? Darüber reflektiert die Filmemacherin Andrea, während sie mit ihrem Partner eine Doku über einen Schriftsteller dreht. Richard Wechsler heißt der Mann, der auf persönliche Fragen nur ausweichend antwortet und kaum etwas von sich preisgibt. Die Dreharbeiten in Paris und in der Schweiz ziehen sich hin, und Andrea versucht, auf eigene Faust zu recherchieren, wie Wechsler früher gelebt und wen er geliebt hat.

Tatsächlich findet die Filmemacherin im Geburtsort Wechslers seine Jugendliebe. Judith. Wie sich herausstellt, haben sich die beiden 40 Jahre lang immer wieder angenähert und voneinander entfernt. Andrea wird nun klar: Judith ist die Frau, über die der Schriftsteller immer geschrieben hat, von der aber nie jemand wusste. Noch bevor Andrea ihn allerdings dazu befragen kann, stirbt der Wechsler, und das Filmprojekt platzt.

Wie in all seinen Büchern schreibt Peter Stamm bestechend klar und knapp, und diesmal etwas lakonischer als sonst. Eigentlich ist seine geheimnisvolle Geschichte kein typischer Roman, sondern eine Reflexion. Darüber, wie die Wirklichkeit das Schreiben beeinflusst und wie das eigene Leben sonst noch sein könnte. Peter Stamms Plot markiert nur den Ausgangspunkt für vielfältige Gedanken und Alternativen, für neue Perspektiven und Wahrheiten. Kristallklare Prosa, die den Geist öffnet.

Ich stelle den Roman am 10.2. in meiner Literatursendung bei egoFM vor – ihr hört alle Folgen der Show hier im Stream (ohne Musik).

Surfen auf der Kokswelle

Achtung! Dieser L.A. Roman ist wie eine Welle aus Poolpartys, Joints, Sex, Alkohol und Koks. Die Figuren in Bret Easton Ellis´ „The Shards“, Teenager einer exklusiven Highschool, surfen lässig auf dieser Welle, doch ganz langsam mischt sich etwas Bedrohliches in ihr bekifftes Leben. Sie werden mit der brutalen Realität konfrontiert, mit einer Mordserie, hinter der einer ihrer Mitschüler steckt.

Bret Easton Ellis nimmt die Lesenden mit auf die Welle, in die Welle, mitten rein ins privilegierte, abgedrehte Leben der 17jährigen im Jahr 1981. Ellis ist ein unheimlich talentierter Erzähler, ein Profisurfer, ein Verführer, der so detailliert und sogartig von sich selbst in diesem Jahr berichtet, dass man es mit allen Sinnen spürt. Beim Lesen hört man die Songs, riecht die Joints, sieht die Outfits, ahnt die Gefahr des Serienmörders, der Jugendliche auf bestialische Weise umbringt.

Also: Eine intensive Zeitreise in ein Highschool Abschlussjahr voller zugekokster schnöseliger Teenager. Plus zunehmenden Gewaltexzessen á la Tarantino. Faszinierende Autofiktion mit mehr als hundert namentlich erwähnten New Wave und Punk Songs – 730 Seiten, die nie langweilig werden. Erschienen bei Kiepenheuer und Witsch, übersetzt von: Stephan Kleiner.

Ich habe den Roman in meiner Literatursendung bei egoFM vorgestellt – ihr hört die Show hier im Stream (ohne Musik).

Wien, Juli 1914

Noch nie in seinem Leben hat Hans so viele Menschen gesehen, so viele Sprachen gehört. Hans, ein Pferdeknecht aus Tirol, kommt am 30. Juli 1914 mit dem Zug in Wien an. Er ist völlig überwältigt vom Treiben in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie.

Die Wiener Schriftstellerin Raphaela Edelbauer hat in „Die Inkommensurablen“ (Klett-Cotta) mit Hans eine überzeugende Perspektive gewählt, und sie gibt ihrer Hauptfigur einen unverstellten Blick auf die Ereignisse. Auf den Straßen fordern kriegsbegeisterte junge Männer die Generalmobilmachung – nach dem Attentat von Sarajewo zwei Tage zuvor, bei dem Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin ermordet wurden, steht Wien Kopf.

Hans will sich jedoch keineswegs freiwillig zum Kriegsdienst melden: Er sucht die Psychoanalytikerin Helene Cheresch auf, von der er erstaunliche Dinge gelesen hat. Offenbar ist sie Expertin für Parapsychologie. Da Hans glaubt, ins Denken anderer Menschen blicken zu können, scheint Cheresch die richtige für ihn zu sein. Es zeugt von großer Erzählkunst, wie Raphaela Edelbauer das Aufeinandertreffen von Hans und der Psychoanalytikerin beschreibt. Der Pferdeknecht hat noch nie eine so selbstbewusste, moderne Frau erblickt, die sich sogar tatsächlich für seine Fähigkeiten interessiert. Kurz darauf trifft Hans auf eine weitere faszinierende Person: Klara, eine junge Feministin, die als eine der ersten Frauen an der Universität Wien im Fach Mathematik promovieren wird und ebenfalls Klientin bei Cheresch ist. Klara stellt Hans schließlich einen blassen jungen Mann vor – Adam, einen musisch begabten Adeligen, der wegen seltsamer Träume zur Psychoanalyse geht.

Innerhalb weniger Stunden entsteht eine verwirrende Vertrautheit zwischen den drei Figuren. Hans, Klara und Adam wirbeln gemeinsam durch Wien und besuchen düstere Lokalitäten im Untergrund. Hans lernt Prostituierte und Adelige kennen, Offiziere und Homosexuelle, Lumpenproletarier und Kriegsbegeisterte. Der Erste Weltkrieg rückt mit jeder Stunde näher, während das ungewöhnliche Trio von einer Kneipe zur nächsten stolpert, über Philosophie und Metaphysik diskutiert und eine magische Zeit miteinander verbringt. Vor realem historischen Hintergrund entfaltet Raphaela Edelbauer virtuos ihre funkelnde Geschichte über drei junge Menschen, die sich der Kriegsbegeisterung entziehen und ihre Träume zu ergründen versuchen.

Raphaela Edelbauer ist am 10.2. zu Gast in meiner Literatursendung bei egoFM – ihr hört alle Folgen der Show hier im Stream (ohne Musik).

Wenn das Schicksal dem Dasein einen Stups gibt

Auf ein großes neues Literaturjahr! Als ersten Roman 2023 empfehle ich „Dein Fortsein ist Finsternis“ des isländischen Schriftstellers Jón Kalman Stefánsson. Ein wundersames Werk voller kunstvoll miteinander verwobenen Geschichten. Worum es grundsätzlich geht? Nun, eigentlich um alles. Denn Stefánsson erkundet Schicksal, Schönheit und Schmerz.

Zum Plot: Ein Mann erwacht in einer Kirche, irgendwo tief in den Westfjorden Islands, und erinnert sich an gar nichts. Doch auf dem Friedhof begegnet er einer Frau, die ihn wiedererkennt. Sie schickt ihn zu ihrer Schwester, mit der er offenbar einmal in einer Beziehung steckte. Also fährt der Mann los, mit seinem Bus und einem mysteriösen Begleiter, der neben ihm sitzt. Die Reise führt durch die atemberaubende Landschaft Islands, und parallel fängt der Roman auch die inneren Landschaften aller Figuren auf, denen der Reisende begegnet.

Da sind zum Beispiel Skuli, Kari, Halldor, Svana, Aldis, Haraldur, Einar, Loa und viele weitere Menschen. Bäuerinnen, Fischer, Pfarrer, Hausfrauen, Handwerker, Musiker und eine Frau mit einem Gewehr. Sie erzählen Geschichten von Trennungen, Unfällen, magischer Liebe und Sehnsucht, vom Überleben und immer wieder vom Tod, der zum Alltag auf dem Land gehört wie das Wetter. Die Hauptfigur, der Reisende ohne Gedächtnis, stellt sich auf seinen Wegen eine Playlist des Todes zusammen: Unter anderem mit Leonard Cohen, Nick Cave, Ella Fitzgerald, Tom Waits, Morrissey, David Bowie, The Cure und Nina Simone.

Jón Kalman Stefánsson lässt seine Geschichten ineinander fließen, lässt sie gleiten, lässt sie los, um in den Gedanken der Lesenden weitere Gefühle auszulösen. Er zeigt, wie das Schicksal dem Dasein immer wieder einen Stups gibt, und er fährt mit seiner Hauptfigur in den kleinen Fjord, wohin die Kompassnadel des Herzens zeigt. Eine Lektüre, die das Herz erwärmt und erweitert. Erschienen bei Piper, übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig.

Ich stelle den Roman am 28.1. in meiner Literatursendung bei egoFM vor – ihr hört die Show hier im Stream (ohne Musik).

Da, wo die Rentiere leben

Frohe Weihnachten mit „Das Leuchten der Rentiere“! Das mag zunächst vielleicht nach Festtagsklischees oder einer romantischen Tiergeschichte klingen. Doch dieser Roman von Ann-Helén Laestadius (Hoffmann und Campe, übersetzt von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt) wiederholt keine Stereotypen, sondern versucht vielmehr, ein realistisches Bild von traditionellen Rentierzüchter*innen unter der samischen Minderheit zu zeichnen.  

Zum Plot: Ganz oben im Norden Skandinaviens, wo es tagsüber minus 30 Grad hat und wo fast nie die Sonne scheint, lebt Elsa mit ihrer samischen Familie. Die Region, in der sie Rentiere halten, gehört zu Finnland und Schweden, und in beiden Ländern werden die Samen diskriminiert und gemobbt. Schon als Neunjährige muss Elsa mit ansehen, wie eines ihrer Rentiere ermordet wird, wie die Polizei die Ermittlungen verschleppt, wie der Täter, ein Schwede, ungestraft davonkommt.

Zehn Jahre später werden wieder Rentiere von samischen Gruppen getötet, doch diesmal weigert sich Elsa, sich mit der Provokation und dem Schicksal abzufinden. „Ich werde niemals aufgeben!“ schreit sie, geht an die Presse und fordert Aufklärung, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit. Damit zieht sie Hass und Unverständnis auf sich, auch bei den Traditionalisten in eigenen Reihen.

Ein intensiver, schneller Roman, der ganz nah an die samischen Rentierzüchter*innen heranzoomt, an ihre Sprache, Bräuche und Festlichkeiten. Mittendrin Elsa, die mutige junge Frau, die ihre lange unterdrückte Wut und Angst überwindet und sich endlich gegen Rassismus und Benachteiligung wehrt. Ein moderne Geschichte über die traditionelle Rentierzucht.

Ich habe den Roman in meiner Literatursendung bei egoFM vorgestellt – ihr hört die Show hier im Stream (ohne Musik).

Die Dolmetscherin

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag – ein Ort, an dem die schwersten Verbrechen der Welt verhandelt werden. Und nur selten ein Ort, an dem ein brillanter Roman spielt. Doch jetzt ist es soweit, in Katie Kitamuras „Intimitäten“ (Hanser, übersetzt von Kathrin Razum), wo eine Dolmetscherin ihre Heimat New York verlässt, um am Gerichtshof in Den Haag zu arbeiten. Sie mietet ein möbliertes Apartment, freundet sich mit Kolleg*innen an, lernt die für jede Sprache festgelegte Terminologie und dolmetscht die ersten Verhandlungen.

Sie lernt Adriaan kennen und verliebt sich in ihn, und Den Haag scheint zu ihrem neuen Zuhause zu werden. Doch mit jedem weiteren Monat am Gerichtshof spürt sie die physische und psychische Belastung des Dolmetschens. Von ihr wird erwartet, neutral zu sein trotz all der Grausamkeiten, die sie übersetzt. Trotz der Verbrecher, denen sie manchmal geradezu intim ins Ohr flüstern muss. Hinzu kommt, dass ihr Freund zu seiner Ex-Frau nach Lissabon fliegt, angeblich um die Scheidung vorzubereiten. Doch die Dolmetscherin zweifelt daran, zweifelt nun auch an Den Haag, an ihrem neuen Job.

Katie Kitamura fängt alle Schwingungen am Internationalen Gerichtshof ein, alle Nuancen. Sie greift große Fragen auf kleinstem Raum auf und schreibt in einer klaren, eleganten, vielschichtigen Prosa. Ein kleines Kunstwerk um die Frage, wie manipulativ Sprache sein kann und ob eine Dolmetscherin angesichts von Lügen und juristischen Tricks zur Gerechtigkeit beitragen kann. Wirklich brillant.  

Ich habe den Roman in meiner Literatursendung bei egoFM vorgestellt – ihr hört die Show hier im Stream (ohne Musik).

Unsterblich, diese mysteriöse Crew

Ein herber Kapitän, der 138 Jahre alt ist. Eine attraktive Barkeeperin, die aus verschiedensten Persönlichkeiten besteht. Ein melancholischer Bordmusiker, der Leonard Cohen spielt. Diese Wesen gehören zu der funkelnden Crew, die Simone Buchholz für ihr fiktives Romanschiff erfunden hat. Die Nordatlantik Fähre gleitet übers Meer, von Dänemark über die Färöer Inseln nach Island und zurück, immer wieder die gleiche Route. „Unsterblich sind nur die anderen“ (Suhrkamp) heißt passenderweise das Buch.

Zwei junge Frauen, Iva und Malin, fahren als Passagiere zum ersten Mal mit. Zunächst suchen sie an Bord ihre verschwundenen Freunde, mit denen sie noch vor kurzem auf Reisen waren. Tatsächlich finden sie die Männer, die seltsam verwandelt wirken, so tiefenentspannt und glücklich. Iva und Malin staunen auch über den verdroschenen Blick des Kapitäns, über die raue Aura des Bordmusikers, über die Wandlungsfähigkeit der Barfrau.

Merkwürdige Dinge passieren: Iva und Malin fühlen sich geflutet von der Wärme und Einsamkeit auf dem Schiff, fast so als ob sich ihr Innerstes mit Meerwasser füllt. Sie spüren keinen Kummer mehr, wie offenbar alle Menschen an Bord. Schritt für Schritt nähern sich Iva und Malin den Crewmitgliedern an, von denen ein ganz spezieller Zauber ausgeht. Befinden sie sich etwa auf einem Geisterschiff? Was zur Hölle ist nur los mit ihnen, mit der Mannschaft, mit ihrem alten Leben, das aus den Fugen und in ungewohnte Gewässer geraten zu sein scheint? Das fragen sich die Frauen permanent, und auch beim Lesen dieser einzigartigen Geschichte tauchen ständig Fragen auf. Iva und Malin rauchen unzählige Zigaretten, schlucken Pillen gegen Seekrankheit und verschmelzen immer mehr mit der verdammt gutaussehenden, sorgenfreien Crew. 

Simone Buchholz hat einen bewusstseinserweiternden Roman geschrieben, eine fantastische Geschichte über die Unsterblichkeit, angesiedelt in einer Parallelwelt auf dem Schiff. Die Handlung spielt fast ausschließlich an Bord der Fähre, gelegentlich unterbrochen von poetischen Passagen und einer munteren Gruppe von Göttinnen, die in den Plot eingreifen. Bei der Lektüre wird klar, warum Simone Buchholz ihre herausragende Krimireihe nicht fortgesetzt hat: Mit ihrem neuen Werk geht sie offensichtlich über die Grenzen der Belletristik hinaus. Ein trocken und lakonisch erzählter Roman, der mit dem Tod und den Erinnerungen der Protagonist*innen spielt und von der Magie von Buddelschiffen inspiriert wurde.

Ich habe den Roman in meiner Literatursendung bei egoFM vorgestellt – ihr hört die Show hier im Stream (ohne Musik).

Die beste Liebesgeschichte des Jahres

Er stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wurde soeben mit dem Tukan-Preis der Stadt München ausgezeichnet: Martin Kordic ist mit „Jahre mit Martha“ (S. Fischer) die beste Liebesgeschichte des Jahres gelungen, die zudem sehr geschicktThemen wie Integration, Migration und das Leben in einer Zwei-Klassengesellschaft  behandelt.

Zum Plot: Er heißt Željko und ist fünfzehn, als er sich in Martha verliebt. Er ist der Sohn kroatischer Einwanderer aus der Herzigowina, sie ist ist eine wohlhabende Professorin aus Heidelberg, bei der Željkos Mutter als Putzfrau arbeitet. Željko wünscht sich das, was Martha hat: Bücher, Bildung und Souveränität. Und er ist bereit alles zu tun um in Deutschland anzukommen, um endlich wahrgenommen zu werden. Also lernt er, die Sprache, das Lieben, das Leben.

Martin Kordic erzählt von der ungewöhnlichen Liebesbeziehung in einer bezaubernden Sprache, leichtfüßig, nie kitschig oder klischeehaft, sondern immer wach und wahrhaftig, fein und mit einem sagenhaft trockenen Humor. Martha und Željko radeln nachts mit dem Fahrrad durch Heidelberg, schreiben sich später fast 60 Briefe, in denen sie Fernschach spielen, treffen sich auf der Nordseeinsel Juist, fahren in Marthas BMW zur Beerdigung von Željkos Großvater und bleiben stets miteinander verbunden, auch wenn sie sich monatelang nicht sehen.

Doch nachdem Željko in München seinen Uni-Abschluss gemacht hat, fühlt er sich zunehmend fremd im eigenen Leben. Zu welchem Land, zu welcher Lebenseinstellung, zu welcher Seite gehört er? Macht ihn der soziale Aufstieg glücklich oder die Zugehörigkeit zu seiner Diaspora-Familie? Balkanesische Verlorengegangenheit nennt Martin Kordic dieses dunkle Gefühl, und er komponiert seinen Roman so geschickt, dass er bis zum Schluss spannend bleibt. Eine berührende Liebesgeschichte, ein Migrations- und Coming-of-Age-Roman, wow, ein literarisches Geschenk.