Barbarotti und der schwermütige Busfahrer

„Wenn man sich vor der Welt verstecken will, ist diese herbstlethargische Gegend, in der die Natur in stiller Balance und Harmonie zu leben scheint, keine schlechte Wahl.“ 

Stimmt. Dieser Kriminalroman lebt von der Herbstlethargie auf Gotland und auf Farö, der vorgelagerten Insel. Aber auch von vielen anderen Faktoren – dazu später mehr.„Barbarotti und der schwermütige Busfahrer“ heißt das neue Werk von Hakan Nesser (btb, übersetzt von Paul Berf), in dem – logischerweise – Inspektor Gunnar Barbarotti ermittelt. Wobei der schwedische Kommissar eigentlich mit seiner Polizeikollegin und Lebensgefährtin Eva Backman zwei Monate Urlaub machen will. Im Norden Gotlands nehmen sie sich eine Auszeit. Gotland, diese geschützte, stille Insel, auf der die Zeit stehengeblieben zu sein scheint, eignet sich perfekt, um Abstand zu gewinnen.

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Barbarotti glaubt, einen Mann erkannt zu haben, der eigentlich tot sein müsste. Ein Busfahrer, der vor 11 Jahren ohne Verschulden einen Unfall verursachte, bei dem 18 Menschen starben. Dieser Busfahrer bekam Morddrohungen und wurde später angeblich auf einer Finnlandfähre über Bord geworfen. Der Fall galt als abgeschlossen. Doch Barbarotti und Backmann ahnen, dass es noch einiges zu ermitteln gibt. Und dass ihr Urlaub den Recherchen zum Opfer fällt.

Hakan Nesser glänzt mal wieder durch seine Markenzeichen: Eine raffiniert aufgebaute Geschichte auf mehreren Zeitebenen. Ein verständnisvoller Blick auf seine Figuren, unvorhersehbare Wendungen und eine humane, leicht ironische Sprache. Was mir bei Nesser besonders gut gefällt: Sine philosophische Erzählhaltung, die zum Nachdenken über die wichtigen Grundfragen des Lebens einlädt. Fazit: Entspannte Spannung.

Raffiniert und mysteriös, diese Liebesgeschichte

Ein Mann verliebt sich in eine Frau. Innerhalb weniger Minuten spürt er: Sie ist es. Zum Glück erwidert die Frau seine Gefühle. Mit ganzem Herzen, aus tiefster Zuneigung und Überzeugung, lassen die beiden sich auf das Schönste ein, was sie je erlebt haben. Sie glühen füreinander und verschmelzen miteinander. Doch dann geht die Frau. Einfach so, am nächsten Tag. Und sie kommt für lange Zeit nicht zurück.

Mit „Der Choreograph“ (btb) hat Håkan Nesser eine der rätselhaftesten und wunderbarsten Liebesgeschichten der vergangenen Jahre geschrieben. Das Buch ist eigentlich Nessers Debüt aus dem Jahr 1988, aber erst jetzt, zum 70. Geburtstag (21.2.) des schwedischen Autors, erscheint es auf Deutsch. Die drei Hauptqualitäten, die einen Großteil von Nessers Gesamtwerk ausmachen, sind schon deutlich in diesem Roman sichtbar:

Eine raffiniert aufgebaute Geschichte, die sich auf mehreren Zeitebenen entfaltet. Eine klare, treffsichere Sprache. Eine philosophische Erzählhaltung, die zum Nachdenken über die essentiellen Grundfragen des Lebens einlädt.

Zurück zum Inhalt: Nach dem Verschwinden der Frau verzweifelt der Mann. Er kann sich nicht erklären, warum sie ihn verlassen hat. Er sucht Erklärungen, rekonstruiert das Kennenlernen, analysiert ihr Verhalten. „Ich bin dabei, den Verstand zu verlieren“ notiert er. Doch dann spürt ein Detektiv die Frau auf, und die beiden Liebenden verbringen drei wunderbare Tage miteinander. Anschließend verabschiedet sich die Frau erneut, und der Mann bleibt verstört zurück. Später wird er noch zweimal die Frau treffen, aber noch Jahre danach fragt er sich, ob diese Begegnungen wirklich stattgefunden haben.

Håkan Nesser gibt nur Teile der Geschichte preis, und er streut gekonnt mysteriöse Andeutungen in seinen Plot. Er schreibt mit Unschärfen, die Raum für Spekulationen lassen. Die Grenzen zwischen der Romanrealität und den Erinnerungen und Wahrnehmungen des Mannes verschwimmen. Existierte die Frau überhaupt? Gibt es Dinge im Leben, die nur ein einziges Mal vorkommen oder zu schön sind um wahr zu sein? Nesser lotet die Zusammenhänge zwischen Materie und Bewusstsein, zwischen Gedanken und Handlungen aus. Seine Hauptfigur, der verzweifelte Mann, hofft, durch den Schreibakt über seine Liebe des Lebens zur Ruhe zu kommen und Frieden zu finden. Doch die Wanderung im Vergangenen wirft neue Fragen auf.

Fazit: Einer der besten der mehr als 35 Romane des gewitzten Geschichtenerzählers. Herzlichen Glückwunsch zum 70., Herr Nesser!  

Drei Lehrer als Hobby-Detektive

hakan nesser, der fall kallmann, rezension, blog, günter keilStrebt ein Schriftsteller nicht danach, die Seele seines Lesers zu umgarnen?“ fragt einer der Protagonisten dieses Kriminalromans. Wie recht er hat – Hakan Nesser umgarnt mal wieder die Seele seiner Leser, so wie er es schon oft erfolgreich getan hat. In „Der Fall Kallmann“ (btb) setzt der schwedische Autor auf vier verschiedene, ruhige Erzählstimmen. Drei Lehrer und eine Schülerin von der Gesamtschule einer Kleinstadt schildern ihre ganz persönlichen Eindrücke.

Lange Zeit passiert kaum etwas: Leon Berger tritt seinen neuen Job als Schwedischlehrer an und ignoriert die Gerüchte, die sich um seinen Vorgänger drehen. Eugen Kallmann, so hieß der Pädagoge, starb unter seltsamen Umständen. Und er war ein seltsamer Mann. Unkonventionell, geheimnisvoll, aber bei den Schülern beliebt. Angeblich, so heißt es, habe er kurz vor seinem Tod an der Aufklärung eines Verbrechens gearbeitet. Als sein Nachfolger auf Kallmanns Tagebücher und Notizen stößt, wird er neugierig. Leon Berger startet seine privaten Ermittlungen. Ludmilla und Igor, ebenfalls Lehrer, helfen ihm bei der ungewohnten Arbeit. Hakan Nesser bringt sogar noch mehr Hobby-Detektive ins Spiel: Andrea und Emma, zwei Schülerinnen, wollen ebenfalls wissen, was wirklich mit Kallmann geschah. Sie erzählen in eigenen Kapiteln von ihren Mutmaßungen, Ahnungen, Erkenntnissen.

Und dann passiert doch noch etwas: Rechtsradikale Drohbriefe tauchen in der Schule auf. Und ein Schüler stirbt. Selbstmord? Mord? Ein Zusammenhang mit Kallmanns Tod? Hakan Nesser ist ein gewiefter Plotkonstrukteur, der seine Leser gekonnt bis zum Schluss in die Irre führt. „Der Fall Kallmann“ ist ein charmanter, gepflegter Kleinstadt-Kriminalroman mit überraschender Auflösung.

Kein Krimi. Trotzdem Nesser.

nessHåkan Nesser liebt subtile Überraschungen. In all seinen Büchern gibt es einen speziellen Dreh, eine unvorhersehbare Wendung. Sein neuer Roman „Elf Tage in Berlin“ (btb) ist von Anfang an eine Überraschung: kein Krimi, sondern eine Tragikomödie.

Arne Murberg heißt die Hauptfigur, ein junger Schwede von schlichtem Gemüt. Er soll in Berlin seine Mutter finden, über die man stets sagte, dass sie kurz nach seiner Geburt gestorben sei. Nun hat er den Auftrag, sie aufzuspüren, erteilt von seinem Vater an dessen Sterbebett. Ein turbulentes Vergnügen bahnt sich an. Mit äußerst rudimentären Deutschkenntnissen und seiner kindlich naiven, offenen Art stolpert Arne durch Berlin. Er verliert sein Handy, trinkt zu viel Bier, seine Schuhe werden geklaut. Doch Arne gibt nicht auf. Wenn er nicht mehr weiter weiß, fragt er in Gedanken Perry Mason um Rat, den fiktiven US-Strafverteidiger.

Håkan Nesser protokolliert gewitzt, beschwingt und mit feiner Ironie jeden von Arnes elf Tagen in Berlin. Parallel führt er weitere skurrile Figuren ein und dreht seinen Plot ins Märchenhafte. Ein liebenswertes, spannendes Abenteuer über einen, der auszog, in der Fremde sich selbst und das Leben kennenzulernen. Ein wundersamer, ja, überraschender Roman. Sogar für den Meister der unvorhersehbaren Wendungen.

Nesser, der charmante Täuscher

nesserNanu? Schon wieder ein neuer Roman von Håkan Nesser? Nach nur acht Monaten? Und dann auch noch mit einer Co-Autorin (Paula Polanski)? Seltsam. Doch schon auf den ersten Seiten von „Strafe“ (btb) zeigt sich: Das ist nicht nur ein waschechter Nesser, sondern eines seiner besten Bücher. Tempo, Sprache, Plot – alles perfekt. Lakonisch erzählt der 64jährige von Schriftsteller Max Schmeling, dessen alter Schulkamerad Tibor ihn um einen Gefallen bittet. Tibor liegt im Sterben, und er will, dass Max seine Lebensgeschichte liest. Als Gegenleistung, denn Tibor hat ihm früher zwei Mal das Leben gerettet. Also nimmt sich Max den Text vor. Er handelt von Tibors verpfuschtem Leben, einem verhängnisvollen Mord und einer verschwundenen Frau. Zu spät wird Max klar, dass er selbst viel zu tief tief in diese Geschichte verstrickt ist. Mehr verrate ich nicht, denn Håkan Nesser trickst seine Leser so brillant aus, dass man es selbst erleben muss. „Strafe“ ist nicht doppelbödig, sondern drei- oder vierfachbödig. Ein genialer Spannungsroman, mit dem Nesser seinen Ruf festigt: als intelligenter, charmanter Täuscher.

Bester Satz: „Als Erwachsener in die Stadt seiner Kindheit zurückzukommen, ist so, als würde man abends frühstücken.“

Nesser kann´s noch immer

nesserVorgestern beschloss ich, meinen Hund zu überleben.“ Wenn ein Buch mit so einem Satz beginnt, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen. Und genauso ist es. In Hakan Nessers neuem Kriminalroman „Die Lebenden und Toten von Winsford“ (btb) sitzt jede Formulierung, es gibt keine dramaturgischen Hänger und die Spannung steigt kontinuierlich an. Ungewöhnlich für Nesser: Er erzählt die Handlung komplett aus weiblicher Perspektive. „Ich“ sagt die Schwedin, als ob sie direkt mit den Lesern spricht. Es gibt auch ein „Wir“, das sind sie und ihr Hund. Die Frau flüchtet in die englische Moorlandschaft Exmoor und will in einem Dorf ein neues Leben beginnen. Doch warum? Wo sind ihr Mann, ihre Kinder? Wieso wird sie verfolgt? Nesser lässt seine Leser lange im Unklaren. Nur ganz langsam enthüllt er die Vergangenheit seiner Hauptfigur. Auch in seinem 24. Roman erweist sich der 64jährige als gewitzter, raffinierter Geschichtenerzähler. Serienkiller braucht er nicht, ihm genügen die Abgründe im Leben ganz normaler Menschen. Man spürt dem Schweden an, dass er noch immer eine unbändige Lust auf neue Geschichten hat. Seine Prosa, auch diesmal wieder erstaunlich leicht lesbar, besitzt eine Tiefe und Ironie, die sich deutlich vom Mainstream abhebt. Ach ja, ob die Frau ihren Hund tatsächlich überlebt? Abwarten…