Sommer bei Nacht

Zwei Teddybären. Ein Grundschul-Flohmarkt in der Nähe von Wiesbaden. Eine Mutter mit Tochter und Sohn. Und ein unbekannter Mann. Plötzlich sind der Junge und der Mann verschwunden, mitsamt einem Teddybär. Obwohl die Mutter ihren Sohn Jannis nur für wenige Momente aus den Augen gelassen.

So beginnt Jan Costin Wagners neuer Kriminalroman „Sommer bei Nacht“ (Galiani). Knapp und präzise, in feinsten Miniatursätzen, startet Wagner den ersten Fall für seine Kommissare Ben Neven und Christian Sander. Die Polizisten stoßen auf Verbindungen zu einem älteren Fall eines weiteren vermissten Jungen. Auch damals wurde ein Teddybär am Tatort gesehen. Lockt der Täter also Kinder gezielt mit Stofftieren an? Es scheint so. Nach Jannis wird nun öffentlich gefahndet. Prompt melden sich die Eltern eines Jungen, der einmal von einem Mann mit Stofftier angesprochen wurde.

„Der Fall ist zum Ereignis geworden, zu einer Kette merkwürdiger, verstörender, trauriger Ereignisse.“

Jan Costin Wagner hat seinen literarischen Krimi raffiniert konstruiert. Er protokolliert die Ermittlungen aus schnell wechselnde Perspektiven. In Wiesbaden, Innsbruck und Rosenheim. Trotz der sogartigen Zuspitzung der Handlung gibt Wagner seinen Figuren Raum für Träume, Gedanken, für eine andere Dimension, ein Vielleicht. Sie halten inne und lassen die Geschehnisse auf sich wirken. Diese schwebende, bisweilen unwirkliche Ebene, unterscheidet Wagner von anderen Genreautoren. Bei ihm spielen Empathie und Zurückhaltung eine ebenso große Rolle wie Spannung. Eine Wohltat inmitten effektheischender lauter Thrillerware.

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Sakari & Kimmo

wagner, sakari, rezension, günter keil In dem Sommer, in dem Marisa den Mond vermessen möchte, betritt Kimmo Joentaa den Raum, in dem das Meer zu Hause ist. Sanna schwimmt im Sonnensee. Petri läuft zwischen den Bäumen, auf der Flucht vor sich selbst. David löscht die Sonne aus.“

Schon klar: Wenn ein Kriminalroman so beginnt, muss es ein besonderer sein. Einer von Jan Costin Wagner. „Sakari lernt, durch Wände zu gehen“ (Galiani Berlin) ist ein höchst dramatisches Buch, das jedoch ruhig, bisweilen poetisch erzählt und von einem stillen, feinfühligen Ermittler bestimmt wird. Kimmo Joentaa heißt dieser Mann, ein finnischer Polizist. „Papa ist manchmal ein großer Nachdenker“ sagt seine Tochter Sanna über ihn. Und tatsächlich: er denkt und fühlt viel, bevor er handelt. Weswegen er genau der richtige ist, um herauszufinden, warum sich Sakari nackt und mit einem Messer auf dem Marktplatz von Turku gezeigt hat. Und warum der junge Mann daraufhin von Joentaas Kollege Petri Grönholm erschossen wurde.

Jan Costin Wagner schreibt zarte, traurige Sätze. In einer leise lodernden Sprache. Er erschafft weite Räume für die Gefühle seiner Figuren, die zu offenen Räumen für die Vorstellungskraft seiner Leser werden. Die melancholische Atmosphäre seiner Romane ist fast noch wichtiger als seine Plots.

Wagner schildert, wie Joentaa in Sakaris Leben eintaucht. Bedächtig und doch bestimmt. Der Polizist findet heraus, dass Sakari vor vier Jahren einen Motorradunfall hatte, bei dem seine Freundin starb. Ein traumatischer Vorfall, der zwei Familien aus ihren Welten gerissen hat. Bei Wagner geht es immer um Trauer und Verlust; seine Figuren suchen nach Halt, Trost und Gewissheit nach furchtbaren Erlebnissen. Kimmo Koentaa ist der Mann, der auch diesmal, in seinem sechsten Fall, trösten kann. Eine unfassbar traurige, wunderbare Geschichte.

Die Last des Loslassens

wagnerEin Zuhause, das seinen Bewohnern durch den Tod eines Familienmitglieds fremd wird. Ein Mensch, der in einem Flugzeug sitzt, das plötzlich vom Himmel verschwindet. Ein Schuss, der die Stille durchbohrt, in der sich ein Einbrecher sicher gefühlt hat. Ein Mann, der einfach nur dasteht und eindringlich beobachtet. – Vier Situationen aus „Sonnenspiegelung“ (Galiani Berlin), dem ersten Erzählband Jan Costin Wagners.

Der 43-jährige ist für seine feinsinnigen, geradezu poetischen Kriminalromane vielfach ausgezeichnet worden. Auch in den neuen Kurzgeschichten dominiert sein klarer, ruhiger Stil, hinter dem sich Abgründe auftun. Wie eine sanfte Schneedecke legt sich Melancholie über die Figuren. Wagner schreibt über Trauer, Ohnmacht, Schuld und Rache. Über dunkle Familiengeheimnisse, die plötzlich ans Tageslicht kommen. Und über die Last des Loslassens nach einer Tragödie. Acht bewegende Geschichten – stille Dramen, knappe Psychostudien und unkonventionelle Kurzkrimis.

„Der Tag, an dem sie zurückkehrt, ist ein 24. Dezember, und die Welt ist weiß.“

Unbedingt lesen: Jan Costin Wagner!

costinJetzt mal ganz LAUT: Jan Costin Wagner ist einer der besten Krimiautoren Europas. Dennoch ist es merkwürdig STILL um ihn. Warum? Vielleicht, weil er nicht bei einem der Großverlage veröffentlicht. Oder weil sein Serienheld, der finnische Polizist Kimmo Joentaa, ein STILLER Melancholiker ist. Wie auch immer: „Tage des letzten Schnees“ (Galiani Berlin) heißt Wagners neuer Roman. Viele Sätze darin wirken wie Gedichte: „Er spürte den Aufprall hinter der Stirn, und sein Blick glitt zur Seite, in Richtung der Fenster, in die sonnige Winterwelt, die wie die Ahnung einer Sehnsucht vorüberflog“. Wagner kann nicht nur literarisch hochwertig formulieren. Er jongliert lässig mit drei Handlungssträngen: das Ehepaar Ekholm trauert um seine Tochter Anna, die bei einem Autounfall stirbt. Der Investmentbanker Markus Sedin verliebt sich in eine rumänische Prostituierte. Und ein junger Mann bereitet sich auf einen Amoklauf vor. Wagner kleidet diese Geschichten in kurze, meditative Sätze. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – ist die Spannung kaum auszuhalten. Mehr verrate ich nicht. Sondern sage noch einmal ganz LAUT: Lest Wagner!