Doch, wir lesen noch!

Leona Efuna ist 17 Jahre alt, kommt aus Stuttgart und geht in die zwölfte Klasse. Im vergangenen Jahr hat sie ihren Roman „eXtRaVaGant – Mond oder Sonne“ (360 GRAD VERLAG) veröffentlicht. Eine tempo- und abwechslungsreiche Geschichte um eine Gruppe von Teenagern, um Freundschaften und Bands, Bulimie und Liebe. All diese Komponenten hat Leona in einen turbulenten Plot gepackt – dazu Songtexte und Briefe ihrer Figuren.

Im Rahmen meines VG WORT Stipendiums habe ich Leona gefragt: Warum war es dir wichtig, dass dein Debüt als „echtes“ Buch erscheint? Und wie hältst du es mit dem analogen Lesen – findet das in deiner Generation überhaupt noch statt?

„Tatsächlich bin ich mir nicht so sicher darüber, ob die „Internetgeneration“ in meiner Kindheit, in der sich meine Buchobsession manifestiert hat, schon einen „bücherfeindlichen“ Einfluss auf mich hatte. Beziehungsweise glaube ich nicht, dass wir aus der Gen-Z eine großartig andere (und bücherlosere) Kindheit hatten als beispielsweise die Millenials. Ich war jedenfalls sehr auf analoge Bücher, die analoge Welt fixiert. Meine Eltern erzählen mir immer davon, dass ich schon als Baby Zeitung essen wollte und das super interessant fand.

Für mich sind heute Bücher vor allem die Kombination aus Textkunst und anderen Kunstformen, wie zum Beispiel Coverkunst und die generelle Gestaltung des Buches. Dem liegen ja immer kreative Entscheidungen zugrunde. Es ist ja schon ein Unterschied, welches Material man wählt, ob das Buch ein Lesebändchen hat, wie dick das Papier ist, ob das Buch ein Hardcover besitzt, oder eine Klappenbroschur, oder ob es ein Taschenbuch ist. 

Natürlich kann man auch Ebooks lesen oder Hörbücher hören, aber richtige Bücher, die auch nach Buch riechen und echte Seiten haben, die man umblättern kann, haben einen viel höheren emotionalen Wert. Finde ich zumindest. Bücher, also echte Bücher, sprechen mehr Sinne an, man kann ihre Haptik spüren, sie anschauen und das Papier beim Umblättern knacken hören. 

Außerdem ist es vielleicht gerade für die Kinder und jungen Erwachsenen meiner Generation wichtig, zu lesen. Wir werden jeden Tag mit so einer Wucht an Information im Internet zugehäuft, dass ich, und vielleicht auch viele andere in meinem Alter, regelmäßig von einem Gefühl der Reizüberflutung heimgesucht werde. Ich habe den Eindruck, Bücher machen sowas nicht mit einem. Natürlich können sie hochkomplex, einnehmend und dicht geschrieben sein, aber sie sind trotzdem nicht so beunruhigend und giftig für die Seele junger Menschen, wie es beispielsweise Soziale Medien sein können.“

Warum das Lesen in Gefahr ist – und Leseförderung so wichtig

„Lesen ist wie Fahrrad fahren: Man kann es erst genießen, wenn man nicht mehr über die Technik nachdenken muss. Im Zeitalter der digitalen Revolution brauchen wir die Revolution des Lesens mehr denn je. Kinder brauchen Bücher. Für ihre und für unsere Zukunft. Sorgen wir dafür.“

(Birgit Franz)

Im Rahmen meines VG WORT Stipendiums habe ich mit der Münchner Kommunikations- und Buchwissenschaftlerin Birgit Franz (Fotocredit: Marion Hogl) gesprochen. Sie betreut mit ihrer Agentur Marketing & Texte verschiedenste Projekte in der Buchbranche und engagiert sich seit zwei Jahrzehnten in der Leseförderung, weil für sie Sprache und Lesen die Basis für alles sind: den Erfolg des persönlichen Lebens und unserer Gesellschaft. Franz mahnt, dass das Lesen für heutige Heranwachsende seine Selbstverständlichkeit zu verlieren droht. Was fatal wäre, denn „Lesen ist kein genetisch verankertes Programm, sondern eine erlernte Kulturtechnik.“, sagt Franz.

Sie bezieht sich unter anderem auf die Leseforscherin Maryanne Wolf, die den fundamentalen Unterschied zwischen digitalem und vertieftem Lesen untersucht hat. Letzteres, so Wolf, fördere die Empathie und die Fähigkeit, die Perspektive anderer einzunehmen, »eine unabdingbare Voraussetzung in einer Welt, in der immer mehr Kulturen, immer häufger aufeinandertreffen.« Vertieftes Lesen helfe zudem dabei,

Neues mit vorhandenem Wissen abzugleichen, kritisch zu analysieren und Rückschlüsse zu ziehen – ein Schutz vor leichter Beeinflussbarkeit und Fake News.

Doch nach der IGLU-Studie, die das Leseverhalten von Zehnjährigen prüft, kann fast ein Fünftel der deutschen Schüler*innen nicht gut genug lesen, um bestimmte Texte auch zu verstehen. „Umso mehr wundert es, dass das Quartett aus Eltern, Schulen, Bibliotheken und Buchbranche mit diesem Thema weitgehend sich selbst überlassen bleibt. Das Engagement der Wirtschaft, die über Azubis klagt, die nicht ordentlich lesen und schreiben können, ist, gelinde gesagt, zurückhaltend. Denn Lesen taugt wenig als PR. Lesen ist eine individuelle Sache und längst nicht so medienwirksam wie Sport, Kunst, Theater oder Tanz. Und nachhaltige Initiativen der Politik fehlen noch immer.“, kritisiert Birgit Franz. In die Bresche sprängen zwar unzählige Leseförderer, kreativ und engagiert, aber ehrenamtlich und fast immer begrenzt durch fehlende finanzielle Mittel. Das muss sich dringend ändern, finde auch ich!

Mein persönlicher Rückblick auf 2021

Wie war es denn, dieses 2021? Gut, schlecht oder einfach nur anders?

Es war – einerseits – ein erfüllendes und erfolgreiches Jahr, in dem ich mit einigen meiner Lieblingsautor*innen auf der Bühne oder im virtuellen Raum stand (Friedrich Ani, Judith Hermann, Jonathan Doerr, T.C. Boyle, Val McDermid, Harald Lesch, Timur Vermes, Douglas Stuart…). Ich moderierte spannende Veranstaltungen mit Reinhold Messner und Peter Wohlleben, mit Ken Follett sowie den Jugendbuchautor*innen Karen M. McManus und Jonathan Stroud. Es gab wunderbare Festivals wie den CRIME DAY und die LIT.LOVE, bei denen ich mit Charlotte Link, Alex Beer, Maria Nikolai und Lucy Astner diskutierte. Zudem trat ich dort live mit Karla Paul in der Show-Version unseres Podcasts LONG STORY SHORT auf (und es gab jede Menge neuer Folgen online). Außerdem gestaltete und moderierte ich alle zwei Wochen meine Literatursendung „Die egoFM Buchhaltung“ – immer eine große Freude. Ein VG WORT Stipendium bekam ich auch noch, und ich durfte viele großartige Romane rezensieren. Was will ich mehr?

Nun… Andererseits kam 2021 noch etwas anderes, völlig Überraschendes, im wahrsten Sinne Schmerzhaftes, hinzu. Ende Oktober stürzte ich beim Moderieren von einer viel zu kleinen Bühne in Frankfurt und brach mir alles, was man sich im Unterarm brechen kann. Elle, Speiche, Membran, Teile des Handgelenks und Ellenbogens. 13 Tage Unfallklinik, vier OPs, viele dunkle Stunden, mein rechter Arm für zwei Monate fast völlig lahmgelegt. Noch immer kann ich ihn nur eingeschränkt bewegen, bis weit ins Frühjahr werde ich Physiotherapie brauchen, viele Aufträge musste ich absagen. Und dennoch: Ich hatte Glück im Unglück, tolle Ärzte und Ärztinnen, Krankenschwestern und Physiotherapeutinnen. Es macht mich dankbar und demütig, mal aus der Perspektive eines Patienten auf die Welt zu schauen. So wird mir noch klarer, was ich in Zukunft will (außer einen geheilten Arm).

Ich wünsche Euch jedenfalls ein gesundes 2022!

Wir sehen und hören uns: Am 22. Januar startet die „egoFM Buchhaltung“, Anfang Februar LONG STORY SHORT. Und jede Menge Moderationen warten auf mich: Mit Arne Dahl, Ingrid Noll… Mehr ab Mitte Januar auf Instagram und Facebook, wenn ich aus meiner Social Media Winterpause zurück bin.

Die Literatur ist zurück im Leben!

Endlich wieder: Echte Bühnen, echte Zuschauer, echter Applaus. Und so viele gute neue Bücher auf einmal wie schon lange nicht mehr. Ja, ich liebe diesen Literaturherbst schon jetzt. In den vergangenen Wochen moderierte ich unter anderem eine Lesung mit dem schottisch-amerikanischen Schriftsteller Douglas Stuart („Shuggie Bain“) im Literaturhaus München (siehe Foto) und das 25-Jahre-Jubiläum des Malik-Verlags mit Reinhold Messner, Lotta Lubkoll und Stephan Orth. In den nächsten Tagen stehe ich mit Judith Hermann und Alice Brauner auf der Bühne, und am 14. Oktober präsentiere ich im Amerikahaus München den neuen brillanten Roman von Anthony Doerr, „Wolkenkuckucksland“ (C.H. Beck). Ach ja, und die Buchmesse rückt auch näher. Allesamt Termine, auf die ich mich sehr freue.

Dazu kommen neue Ausgaben meiner „egoFM Buchhaltung“, in der ich z.B. den Stephen-King-Übersetzer Bernhard Kleinschmidt zu Gast hatte und die neuen Romane von Jenny Erpenbeck, Benjamin Myers, Kira Jarmysch und Frank Göre lobte. In der nächsten Sendung am kommenden Samstag, 9. Oktober, erzählt Douglas Stuart mehr über seine Geburtsstadt Glasgow; zudem gibt´s ein Special über die Hotlist, den wichtigsten Literaturpreis für unabhängige Verlage. Alle Folgen der „egoFM Buchhaltung“ könnt Ihr hier ohne Musik nachhören. Mit Kinderbuchautor Thomas Winkler und Illustrator Daniel Stieglitz hatte ich übrigens auch vor kurzem eine Moderation – die Präsentation ihres neuen Werkes „Luis und Lena – Der Zwerg des Zorns“ (cbj).

Auch im Podcast „Long Story Short”, den ich mit Karla Paul konzipiere und moderiere, tut sich einiges. Ab Dienstag ist unsere Nachhaltigkeitsfolge online, in der wir sechs neue Bücher zum vielleicht wichtigsten Thema unserer Zeit vorstellen. In vier Wochen läuft außerdem unser Bestseller-Special, für das ich Marc Elsberg zur Jubiläumsausgabe seines Klassikers „Blackout“ (Blanvalet) interviewt habe. Und schon jetzt prüfen Karla und ich Bücher für unsere Weihnachtsfolge, in der wir traditionell zehn Bücher empfehlen – aber bis zu den Aufnahmen haben wir noch zwei Monate Zeit, zum Glück. Die Entscheidung, welche Romane und Kurzgeschichten ich wann, wie und wo rezensiere, fällt mir in diesem Herbst wirklich schwer – in meinem Büro stapeln sich großartige Neuerscheinungen, die offenbar jetzt geballt erscheinen, nachdem viele Titel im vergangenen Jahr geschoben wurden. Ich wünsche auch Euch einen anregenden, erfüllenden Literaturherbst!

Nach der Sommerpause…

Sommerpause? Wie bitte? Eine richtige Pause war das sowieso nicht. Es gab nur für ein paar Wochen keine neuen Folgen des Podcasts LONG STORY SHORT und keine neuen Ausgaben der „egoFM Buchhaltung“. Gelesen und recherchiert habe ich allerdings noch mehr als sonst, und, wichtig: viele neue Ideen gesammelt für den Herbst.

Schließlich stehen tolle Veranstaltungen an – ich moderiere Lesungen und Talks mit Judith Hermann, Anthony Doerr, Douglas Stuart, Michael Thode, Jonathan Strout, Karen McManus, Alice Brauner und anderen. Im September moderiere ich zudem einen Abend zum 25. Jubiläum des Mailk-Verlages und im Literaturhaus Herne/Ruhr werde ich im Oktober meine Lieblingsbücher des Herbstes vorstellen. Vorausgesetzt, Corona macht uns nicht zum gefühlt hunderten Mal einen Strich durch die Rechnung.

Ganz aktuell ist eine neue Folge LONG STORY SHORT online auf allen Plattformen. Karla Paul und ich stellen darin unter anderem „Sein Name war Annabel“ von Kathleen Winter und „Das Adressbuch der Dora Maar“ von Brigitte Benkemoun vor (beide btb Verlag). Um unseren Podcast fit für die Zukunft zu machen und Eure Wünsche umzusetzen, haben wir gemeinsam mit Penguin Random House eine kurze Umfrage erstellt – wir freuen uns, wenn Ihr mitmacht! Einfach hier klicken.

Vor ein paar Tagen saß ich bei einer der international erfolgreichsten Bilderbuch-Illustratorinnen daheim auf dem Sofa:

Binette Schroeder erzählte mir wunderbare Anekdoten über ihre Arbeit und die Erfindung ihrer berühmtesten Figur „Lupinchen“ (Nord-Süd Verlag). Dazu gab es Tee und Zwetschgendatschi, serviert von Schroeders Mann Peter Nickl. Aus dem Gespräch bastle ich nun ein großes Interview für das Magazin MÜNCHNER FEUILLETON. Im September erscheint übrigens Binette Schroeders neues Buch „Herr Grau & Frieda Fröhlich“.

Endlich wieder Festival- und Messeatmosphäre!

Endlich mal wieder in einem Raum mit realen, tatsächlich anwesenden Autor*innen und Kolleg*innen! Endlich mal wieder ein kleines bisschen Festival- und Messeatmosphäre! Ja, es tat so gut…

Am vergangenen Wochenende moderierte ich beim digitalen CRIME DAY in Hamburg Gespräche mit Charlotte Link,  Alex Beer und Bernhard Aichner, und die LONG STORY SHORT Show mit Karla Paul. Unter strengen Hygienevorschriften, versteht sich: Wir alle mussten uns täglich testen lassen, Abstand halten und (bis auf der Bühne) Maske tragen.

Der Aufwand hat sich gelohnt: Dadurch, dass wir uns tatsächlich in die Augen sehen sowie Mimik und Gestik wie vor Corona wahrnehmen konnten, entstand eine viel authentischere Stimmung. Und Spannung, nicht nur wegen der CRIME DAY Inhalte. Eine wunderbare Abwechslung zu den Stream-Moderationen vor Laptop oder Smartphone, die ab jetzt wieder mein Alltag sind. Gestern z.B. moderierte ich eine Lesung mit der Autorin und Psychotherapeutin Heike Duken (Roman „Denn Familie sind wir trotzdem“ – das Video findet Ihr auf Youtube und litlounge.tv).

Ich blicke also sehr gerne zurück auf die anregenden Moderationen in Hamburg. Und ich blicke nach vorne: Spätestens im Sommer wird es wieder Lesungen mit Publikum geben. Schon jetzt sollten mehr Pilotprojekte wie in Tübingen oder Berlin starten, in denen Kultur und Gastronomie mit Schnelltests und Hygienemaßnahmen öffnen. Denn aus diesen Studien lassen sich wertvolle Informationen gewinnen, ob und wie sichere Freizeitaktivitäten möglich sind.

Warum ich keine Bücher verreiße

Ich habe keine Lust auf Verrisse. Auf die akribische Suche nach Schwächen und Fehlern, auf eitle Belehrungen und verletzende Schmähungen.

Wozu sollte das auch gut sein? Wem hilft es, wenn Literaturkritiker*innen den Platz, der ihnen in Medien zur Verfügung steht, für Bücher nutzen, von denen sie abraten? Klar: Wenn selbstgefällige Rezensenten ein vernichtendes Urteil fällen, gibt es Schlagzeilen, Klicks und mediales Echo. Aber: Wäre es nicht viel besser, konstruktive Kritik zu üben? Begründete Empfehlungen zu geben? Zum Kauf guter Bücher anzuregen statt vom Erwerb schlechter Literatur abzuraten?

Literaturkritik ist ein komplexes, widersprüchliches Thema. Sie schwebt irgendwo zwischen Journalismus und Literaturwissenschaft, zwischen Lesebegeisterung und Prüfmechanismen. Rezensionen sind so vielfältig wie ihre Verfasser*innen, und die Bandbreite von Literaturkritik ist enorm – sie wird seit Jahren immer größer. Ihr Spektrum reicht von digitalen Buchplattform-Kommentaren, Leserkreis-Tipps und Regionalzeitungs-Buchbesprechungen, über Blogs und Vlogs, bis zur literaturgeschichtlich eingeordneten Feuilletonkritik in Qualitätsmedien.

Diese Vielfalt ist wichtig. Und es lohnt sich, den riesigen Raum zwischen Lob und Tadel, Demütigung und Glorifizierung, Empfehlung und Analyse zu untersuchen. Was passiert dort? Warum begeistern sich die einen für Bücher, während die anderen Werke schmähen? Und was macht mehr Sinn?

Beginnen wir damit, was für mich „gute“ Literatur ist. Bei meinen Rezensionen lege ich ganz bewusst den Bewertungsfokus auf den unmittelbaren Effekt von Romanen. Denn sie sollten Reaktionen auslösen: Freude, Empathie, Spaß, Überraschung, Bestätigung, Trauer, Wut, Fassungslosigkeit. Bloß nicht: Gleichgültigkeit und Langweile. In der Folge passiert dies: Gute Bücher wecken Interesse und schaffen Verständnis für die Situation anderer Menschen. Sie irritieren, verstören, kurz: sie berühren die Seele. Sie unterhalten nicht nur, sondern regen indirekt an, über sich und die Welt nachzudenken. Wenn wir beim Lesen etwas über andere Lebenswelten (oder uns selbst) lernen, verstehen wir diese (und uns) besser.

Gleichzeitig dürfen und sollen uns Geschichten aus dem Alltag entführen, geradezu wegbeamen, und wenn sie das können, wenn sie uns vergessen und abschalten lassen, wenn sie zur Erholung und Erfüllung beitragen, dann sind sie gute Geschichten. Davon bin ich überzeugt.

Moment mal! Ruft an dieser Stelle die traditionelle Literaturkritik. Das ist doch eine völlig unqualifizierte, subjektive Wohlfühlperspektive. Wo bleiben die üblichen Kriterien? Die Qualitätsmaßstäbe betreffend Sprache, Aufbau, Originalität und Relevanz?

Keine Sorge. Sie gelten nach wie vor. Und sie sollten auch Teil (m)einer Rezension sein. Aber sie sollten unterschiedliche Zielgruppen berücksichtigen und nicht von oben herab gepredigt werden. Vor allem sollten sie nicht davon ablenken, dass auch eine scheinbar objektive Beweisführung eines Experten subjektiv ist – anerkannte Literaturkritiker widersprechen sich häufig. Dieser Diskurs ist erfrischend, doch die alleinige, einseitige Vernichtung eines Werkes ohne Widerspruch, das Contra ohne Pro, ist – ja, kontraproduktiv. Eine Seite Verriss – wozu? Um sich an der eigenen Überlegenheit zu erfreuen? Um sich über ein Buch echauffiert zu haben, während dutzende empfehlenswerte Bücher keine Erwähnung finden? Das schadet der Literatur.

Nicht zu vergessen: Auch ein herausragender literarischer Text kann zum Gähnen langweilig sein, wohingegen eine scheinbar simple Geschichte bewegen und begeistern kann.

Ja, wir brauchen professionelle Literaturkritik. Um Bücher einordnen und einschätzen zu können. Um für unsere Leseentscheidung mehr zur Verfügung zu haben als Klappen- und PR-Texte oder Online-Kommentare. Kritik dient immer als Orientierung, und es hat auch durchaus seinen Reiz, wenn Denis Scheck in „Druckfrisch“ schonungslos über die Titel der Bestsellerliste urteilt. Er darf das. Denn im Rest seiner Sendung lobt und feiert er die Literatur so schwärmerisch wie kaum ein anderer renommierter Kritiker.

Selbstverständlich nähere ich mich den zu begutachtenden Werken kritisch. Doch die Stärken hervorzuheben und die Schwächen zu erwähnen, erscheint mir sinnvoller als den Finger in die Wunde zu legen. Falls mir ein Roman überhaupt nicht zusagt, schreibe ich einfach nicht darüber. Denn die Zeilen, die ich für eine Abrechnung verbrauchen würde, fehlten für Literatur, die ich ans Herz legen möchte. Und davon gibt es mehr als genug.

Literatur moderieren, trotz Corona

„Jetzt geht´s wieder los, oder?“ werde ich zurzeit ständig gefragt. Tatsächlich finden wieder vereinzelt Lesungen statt, vom „Losgehen“ ist allerdings noch wenig zu spüren. Ich bekomme einzelne Anfragen für den Herbst, ja, aber viele große Veranstaltungen und Festivals bleiben abgesagt, zu unsicher ist die Lage, zu schwer die Finanzierung bei Einhaltung aller „Hygienevorschriften“.

Aber immerhin, es tut sich etwas. Und: Es gibt das Netz. Und Radio. In beiden bin ich zum Glück aktiv.

Am Samstag, 11. Juli, startet meine neue Buchsendung auf egoFM. Ab dann alle zwei Wochen, jeweils von 14.00 bis 16.00 Uhr. Über Antenne in zahlreichen Städten und weltweit online. Mehr dazu bald hier im Blog – ich freue mich sehr auf diese Show! Der Claim lautet: Die egoFM Buchhaltung – wer nicht hören will, muss lesen!“ Für mich ist es die schönstmögliche Rückkehr zu dem Medium, bei dem ich als 18-jähriger angefangen habe zu moderieren. Direkt zum Sender hier.

Und dann gibt´s die Online-Buchpremieren: Per Streaming moderierte ich vor kurzem Gespräche mit den Autorinnen Leonie Swann (mit der ich live englischen Tee trank, siehe Foto unten) und Claudia Winter (die wie ich im gestreiften T-Shirt vor der Kamera saß) – beide Gespräche wurden insgesamt mehr als 5.500 mal auf Instagram, Facebook und Youtube aufgerufen. So viele Zuschauer*innen hätten wir bei Lesungen kaum gehabt!

Ach ja, und wie wäre es mit einem kleinen 4-Minuten-Video aus meinem Büro, das ich fürs Literaturhaus Herne/Ruhr aufgenommen habe (siehe Foto ganz oben)? Mit zwei aktuellen Buchtipps (Ta-Nehisi Coates und Joanna Nadin). Falls es Euch interessiert, schaut rein, einfach HIER klicken.

Es gibt also viel zu tun, trotz Corona. Aber die echten Live-Begegnungen fehlen mir nach wie vor – für sie gibt es keinen Ersatz. 

 

 

Was tun, ohne Lesungen und Festivals?

Neun Wochen. So lange müssen wir Buchmenschen nun schon verzichten. Auf Lesungen, Literaturfestivals, Diskussionsrunden, Messen. Klar, all das gibt es auch online, auf den Seiten von Verlagen, Kulturinstitutionen, Facebook und Instagram, mehr denn je. So erfreulich diese Aktivitäten auch sind: Echte Begegnungen ersetzen sie nicht. Das gleiche gilt für Konzerte, Theaterstücke, Tanzaufführungen und Opern.

Als Moderator von Live-Veranstaltungen leide ich doppelt: Mir fehlen die inspirierenden und motivierenden Treffen mit Autor*innen, Besucher*innen und Organisator*innen. Und mir fehlen die Honorare. So geht es tausenden Freiberuflern, und die Aussichten bleiben düster. Dennoch sind z.B. Soforthilfe und Künstlerhilfe in Bayern nicht kombinierbar – man darf also nur entweder nicht bezahlbare Betriebskosten haben oder nicht bezahlbare Lebenshaltungskosten. Beides ist nicht vorgesehen, sprich: völlig lebensfremd. Und: Staatliche Hilfen für Freiberufler sind auf drei Monate begrenzt – die Behörden tun so als ob ab Juni das Kulturleben wieder auf Normalniveau hochgefahren würde.

Die Realität sieht anders aus. Mir wurden schon Aufträge für Spätherbst gecancelt: Europas größtes Krimifestival Mord am Hellweg findet genauso wenig statt wie das Krimifest Tirol – auf beiden hätte ich Veranstaltungen mit internationalen Autoren moderiert. Zahlreiche zugesagte Auftritte für meine Literaturshow mit Karla Paul wurden ebenfalls gestrichen – mit viel Glück finden sie noch irgendwann dieses Jahr statt. Niemand weiß es. Und die Frankfurter Buchmesse? Auf deren Homepage heißt es heute optimistisch: „Noch 146 Tage“ Aber niemand glaubt daran, dass die Messe halbwegs normal stattfinden wird. Nächste Woche soll es dazu eine klare Aussage geben.

Zum Glück produziert die Verlagsgruppe Random House weiterhin unseren Podcast LONG STORY SHORT (neue Folgen hier). Und zum Glück bin ich Journalist. Ich recherchiere und schreibe also momentan mehr als dass ich moderiere. Leider wird das Schreiben unfassbar schlecht bezahlt, auch von sogenannten Qualitätsmedien. Aber ich lasse mir die Laune nicht vermiesen. Vor kurzem habe ich den niederländischen Historiker Rutger Bregman und den italienischen Autor Marco Balzano interviewt – beide schätze ich sehr.

Am 30. Mai moderiere ich auch wieder. Die Buchpremiere mit Leonie Swann (Weltbestseller „Glennkill“, neuer Roman „Mord in Sunset Hall“) in München wurde zwar abgesagt, aber wir beide unterhalten uns trotzdem. Über Instagram. Und ich bereite ein spannendes neues Literaturprojekt im Radio vor… Details folgen… Bleibt gesund!

Was hat Thomas Mann mit Corona und dem Playboy zu tun?

Seltsame Frage, oder? Wobei: Ist zurzeit nicht alles seltsam? Also, ich antworte mit einer kleinen Geschichte:

Jeden Monat stelle ich auf der Literaturseite im Playboy drei Neuerscheinungen und einen Literaturklassiker vor – in einer der nächsten Ausgaben Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“. Das Problem: Der S. Fischer Verlag, bei dem Mann erscheint, konnte wegen Corona-Verspätungen das Buch nicht an die Redaktion liefern – dort macht die Redakteurin Corinna Beckmann monatlich ein Foto der vier Bücher. Die Zeit drängte, der Redaktionsschluss nahte. Was tun? Meinen privaten Krull nehmen? Nein. Der sieht so zerlesen aus, den will niemand sehen.

Zum Glück lebe ich in München und radle gerne durch die Stadt.

Station Nr. 1: Die Buchhandlung Lehmkuhl in Schwabing, die mir auf gerade noch legalem Weg eine neue Krull-Ausgabe besorgen konnte (Vielen Dank, ihr seid wunderbar!). Station Nr. 2: Der Englische Garten, der mehr oder weniger auf dem Weg zur Playboy-Redaktion liegt und in dem ich ein bisschen verweilte (was inzwischen doch wieder erlaubt ist, sogar in Bayern). Station Nr. 3: Der Kaiser-Ludwig-Platz 5 nahe der Theresienwiese, Standort der Redaktion, in der eine erfreute Notbesetzung mein Buch entgegennahm.

Fazit: Literatur hält fit. Und Buchhandlungen sind wichtiger als Baumärkte. Sollten bei den hoffentlich bald möglichen Lockerungen der Corona-Beschränkungen die Heimwerker-Center öffnen, während die Buchhändler nur online aktiv sein dürfen (wie es in einigen Bundesländern schon jetzt der Fall ist), werde ich sauer. Denn mit Gesundheitsschutz hat diese Ungleichbehandlung nichts zu tun.