Eine Heldin, unterwegs

Doris Dörrie war eine der ersten Prominenten, die öffentlich gegen den Ukraine-Krieg demonstriert hat, vor dem Russischen Generalkonsulat in München. In ihrem neuen Buch „Die Heldin reist“ (Diogenes) erzählt sie vom Unterwegssein, vom Mythos des Helden und der Heldin, der Dramaturgie der sogenannten »Heldenreise«, die mit der Realität kaum etwas zu tun hat, denn echte Held*innen sehen anders aus als in Blockbustern. Zudem reflektiert Dörrie übers Suchen und Finden von Glück. Sehr persönlich, sehr unterhaltsam und immer in einer hochwertigen, vielseitigen Sprache. Anekdoten, Tagebucheinträge, Erinnerungen und ein beständiges Hinterfragen bestimmen die literarischen Linien dieses Werkes, mal humorvoll, mal nachdenklich, und immer lebensklug.

„Dies ist keine runde Story“, schreibt Doris Dörrie an einer Stelle. Stimmt: die Filmemacherin hat keine geschönte oder verklärte Mini-Autobiografie abgeliefert, sondern ein inspirierendes, ehrliches und philosophisches Buch, das sich ganz wunderbar liest. Ich habe mich mit ihr zum Interview in München getroffen (siehe Foto) – hier ein Ausschnitt:

In welchen Momenten Ihres Lebens haben Sie sich als Heldin gefühlt? Nur ein einziges Mal, als ich mein Kind zur Welt gebracht habe. Da dachte ich mir: Wow, das hast du jetzt wirklich geschafft! Ich dachte, ich bin zu blöd dazu.

Was ist mit Ihren großen Erfolgen als Regisseurin und Autorin oder mit Ihrem Entschluss, als junge Frau allein in die USA zu gehen – das waren doch auch heldinnenhafte Taten? Nein. Das Denken in Heldinnen- oder Heldenmaßstäben liegt mir sehr fern. Erfolge sind ein kompliziertes Geflecht aus vielen Faktoren, das liegt nie nur an mir, an einer Person. Ein Held ist oft ein Einzelkämpfer oder tut zumindest so in seinem heldenhaften Gebaren, und so habe ich mich nie gefühlt. In meinem neuen Buch „Die Heldin reist“ versuche ich den Begriff genauer zu umkreisen und zu analysieren, dass der eine strahlende Held gegen den Rest der Welt als Modell überholt ist. Denn wenn einer es allein schafft, ist das das Gegenteil von Gemeinschaft. Wir brauchen aber doch die Gemeinschaft, das Team, die Nachbarn, den „Rest der Welt“ – sonst sind wir aufgeschmissen.

Das heißt, es gibt gar keine echten Helden? Doch, aber oft sind sie es unfreiwillig geworden oder es wird ihnen zugeschrieben, obwohl sie es von sich weisen. Edward Snowden ist ein Held für mich. Einer, der eine hohe Verantwortung auf sich genommen hat und ein enormes Risiko eingegangen ist. Echte Helden werden oft nicht belohnt. Die klassische Heldenreise im Kino hat dagegen oft mit Errettung und Belohnung zu tun. Oder nehmen Sie Schriftsteller*innen und Reporter*innen in Diktaturen – diese Menschen bewundere ich. Oder die, die in Corona Zeiten in Krankenhäusern arbeiten. Ich habe mich oft gefragt, wann ich an ihrer Stelle davon laufen würde.

Das komplette Interview hört ihr hier im Stream meiner Literatursendung bei egoFM und lest ihr in der April-Ausgabe des Playboy.

Kiew, Kurkow und der Krieg

Kiew… Ich erinnere mich gerne an meinen einzigen Besuch, an das Interview mit einem ukrainischen Schriftsteller, den ich sehr schätze: Andrej Kurkow (Photo © Pako Mera/Opale). Vor mehr als zehn Jahren spazierte mit ihm durch „eine der schönsten Städte der Welt“, wie er meinte. Und tatsächlich: Ich war fasziniert vom Höhlenkloster, das im Mittelalter als Weltwunder galt, von Ober- und Fürstenstadt, vom alten Arbeiter- und Händlerviertel Podol, von der Sophienkathedrale und dem Michailkloster.

Klar, ich sah auch heruntergekommene Plattenbauten und hässliche Monumentaldenkmäler, krasse Armut und die Verdrängung der Normalverdiener aus der noblen Innenstadt, schon damals. Andrej Kurkow hat diese Gegensätze in seinen Romanen immer wieder beschrieben, er hat seine Heimat scharf kritisiert und zutiefst geliebt, und er hat mir die Augen und das Herz geöffnet für eine besondere Stadt mit besonderen Menschen, mit herausragender Architektur und europäischer Kultur.

Nun denke ich immer wieder an die Stunden, die ich durch Kiew flanierte, an die Ukrainer und Russen, die jetzt in Kellern und U-Bahnhöfen ausharren, an diejenigen, die flüchten und verzweifeln. Gestern stand ich mit 5.000 anderen Münchnern am Stachus, darunter viele Ukrainer und Russen, und demonstrierte gegen diesen Krieg. Gegen Putin. Gegen deutsche Politiker und Konzerne, denen Geld wichtiger ist als Moral. Für Frieden.

Wir brauchen Empathie und Solidarität, nicht noch mehr Opportunismus und Zynismus, noch billigere Energie und noch günstigere Konsumartikel aus Ländern, in denen den Bürgern die grundlegenden Menschenrechte abgesprochen werden, in denen es keine freie Presse gibt, in denen wir niemals leben wollen würden. Lasst uns konsequent sein und die Werte einfordern und leben, die in unserer Verfassung stehen. Dann können wir wirklich etwas verändern.

Im Interview: Judith Hermann

Vom permanenten Veröffentlichungsdruck der Buchbranche lässt sich Judith Hermann kaum beeinflussen: Die Berlinerin veröffentlicht meist nur alle vier, fünf Jahre ein neues Werk. Mit ihren Debüt „Sommerhaus, später“ gelang ihr vor 23 Jahren auf Anhieb der Durchbruch, und ihr vor kurzem erschienener Roman „Daheim“ (S. Fischer) steht seit Wochen hoch oben in den Buchcharts. Die 50jährige lebt und schreibt in Berlin. (Foto: Andreas Labes / S.Fischer)

Gab es einen bestimmten Grund, warum Sie aus der Idee zu „Daheim“ einen Roman gemacht haben? Ich glaube, meine Geschichten suchen sich ihre Länger selber aus, sie entscheiden für sich, wie lang oder kurz sie sein wollen. Ich fange zwar mit einer bestimmten Idee an zu schreiben und weiß ungefähr, was ich im Text unterbringen will; aber erst während des Schreibens entsteht eine genauere Vorstellung davon, wieviel Raum die Geschichte brauchen wird. An und für sich mag ich dieses Exit-Prinzip, das Raymond Carver einmal mit „fast in fast out“ beschrieben hat, also ein Text wie ein Schnappschuss, ein Foto. „Daheim“ war zunächst eine beinah klassische Shortstory: eine junge Frau trifft einen alten Zauberer, der mit ihr als Assistentin nach Singapur gehen will und sie zieht das in Erwägung und entscheidet sich dann doch dagegen – aus Gründen, die die Geschichte verschweigt.

Und dafür reichte der Raum einer Kurzgeschichte nicht aus?  Genau. Reichte nicht aus. Ich wollte mehr über diese Figur wissen, ich wollte wissen, wie das weitergeht, was diese junge Frau stattdessen macht, was aus ihr werden wird. Ich wollte das herausfinden und es aufschreiben, und die Figur wollte davon erzählen – so wurde ein Roman daraus.

Diese Frau zieht Jahrzehnte nach ihrer Begegnung mit dem Zauberer nach einer Trennung in ein Dorf am Meer. Sie wirkt als ob sie dort Freude am Alleinsein hätte und die Einsamkeit genießen könnte. Sie empfindet es tatsächlich in keiner Weise als defizitär, allein zu sein, es schwächt sie auch nicht, und es macht sie nicht trauriger als bestimmte Dinge ohnehin traurig sein können. Allein zu sein ist etwas Exquisites, eine Möglichkeit, sich selber und die Erinnerungen zu besehen und zu ordnen. Begegnungen mit anderen sind ihr durchaus wichtig, aber die Rückkehr ins Alleinsein ist genauso wichtig. Und vermutlich ist das ziemlich nah dran an dem, was man lebt, wenn man schreibt

Arbeiten Sie in den Jahren zwischen Ihren Veröffentlichungen kontinuierlich am jeweils neuen Werk oder gibt es währenddessen freie Phasen, in denen Sie Ihre Gedanken schweifen lassen können? Ich habe ganz wenige freie Phasen zwischen den Veröffentlichungen. Je älter ich werde, desto mehr begreife ich, daß die Entscheidung fürs Schreiben bedeutet, eigentlich immer zu schreiben. Es gibt eine bestimmte Art der Wahrnehmung, die dann nicht mehr zu unterbrechen ist, ein permanentes Selbstgespräch, das unentwegt Realität in einen möglichen Text umsetzt. Das bedeutet nicht, dass ich die ganze Zeit faktisch und kontinuierlich schreibe, aber ich denke eben die ganze Zeit übers Schreiben nach.

Klingt fast nach einem Zwang. Ist ein wenig zwanghaft, ja. Es ist schwer, sich das wieder abzugewöhnen und vielleicht ist dieser Umgang mit Wirklichkeit letztlich auch ein etwas verquerer Selbstschutz. Ich wünschte manchmal, ich könnte das ändern, es ist auch anstrengend, aber das gelingt mir nicht so gut.

In „Daheim“ beschreiben Sie an einer Stelle, was auf dem Schreibtisch Ihrer Hauptfigur liegt. Wie sieht es auf Ihrem aus? Auf meinem Schreibtisch liegen eine Menge kleiner Zettel und es steht eine Tasse Tee darauf, ein Stövchen mit der Teekanne. Stifte, Bleistifte, ein Anspitzer, und eine Lampe mit einem Sockel, auf dem Dinge liegen, die mir wichtig sind.

Ein Beispiel, bitte. Räucherstäbchen. Ich habe sehr lange geraucht und als ich mir das Rauchen abgewöhnt habe, war der Verzicht auf die Zigarette am Schreibtisch der schwerste. Ich rauche nicht mehr, aber ich möchte gerne Rauch um mich herum haben, ich möchte ihn sehen, dem Rauch hinterhersehen. Deswegen brennen auf meinem Schreibtisch immer sehr feine japanische Räucherstäbchen. Wichtig fürs Nachdenken, für das Schweifenlassen der Gedanken.

Das komplette Gespräch mit Judith Hermann hört Ihr in meiner Literatursendung auf egoFM. Einfach zur „Buchhaltung“ vom 8. Mai scrollen.

Im Interview: Bernardine Evaristo

Endlich! Als erste schwarze Schriftstellerin wurde Bernardine Evaristo 2019 mit dem Booker Prize ausgezeichnet – für ihren Roman „Mädchen, Frau etc.“ (Klett-Cotta / übersetzt von Tanja Handels / Foto: Jeannie Scott). Barack Obama empfahl den Roman in der Liste seiner Lieblingsbücher, die Vogue zählte Evaristo zu den einflussreichsten Frauen Großbritanniens 2020. Evaristo wurde 1959 als viertes von acht Kindern in London geboren. Sie veröffentlicht Essays, Gedichte, Kurzgeschichten, Radio-Dokumentationen und Theaterstücke. Ich habe für mojoreads.de und egoFM mit Evaristo gesprochen – hier die erste Frage als Teaser:

In Ihrem neuen Roman porträtieren sie zwölf schwarze britische Frauen, deren Lebenswege sich teilweise kreuzen. Warum haben Sie sich für so viele Protagonistinnen entschieden? Um herauszufinden, wer wir schwarze Frauen in dieser Gesellschaft sind, wo wir stehen und wie vielfältig unsere Leben aussehen, wollte ich so viele Figuren wie möglich im Buch haben: Diversität und Quantität. Ursprünglich hatte ich sogar die Idee, über tausend Frauen zu schreiben, doch das war natürlich verrückt. Dann dachte ich über hundert nach, aber – ich gebe es zu – das war auch noch ziemlich verrückt. Letztlich sind es zwölf Frauen und ein binärer Charakter geworden; sie sind zwischen 18 und 93 Jahre alt und stehen nun tatsächlich für alle Arten von Unterschieden und Möglichkeiten, die wir heutzutage haben.

Das komplette Interview gibt´s auf mojoreads.de (einfach hier klicken), und in meiner Literatursendung auf egoFM hört Ihr am Samstag, 30. Januar, Bernardine Evaristo im Originalton

Besondere Buch-Begegnungen

Was für ein Glück! In den vergangenen Wochen hatte ich jede Menge interessanter Moderationen und Interviews. Einer der Höhepunkte: Mein Gespräch mit Schauspieler und Bestsellerautor Joachim Meyerhoff. Im Café des Literaturhauses Berlin (Foto) nahm er sich viel Zeit für mich und sprach über seinen Schlaganfall, den er in seinem neuen Roman „Hamster im hinteren Stromgebiet“ verarbeitet hat. Nachzulesen ist das Interview als großer Kultur-Aufmacher in der aktuellen Ausgabe des Playboy. Nachzuhören sind Ausschnitte unseres Treffens in meiner Literatursendung auf egoFM vom 26.9. – einfach hier klicken.

Zum Livestream in der Lesungsreihe #readntalk traf ich Amelie Fried (Foto unten) und Stefanie Stahl im TV-Studio der Verlagsgruppe Penguin Random House in München. Wir diskutierten über „Die Spur des Schweigens“ und „Jeder ist beziehungsfähig“, und zahlreiche Buchhandlungen in ganz Deutschland waren mit ihren Kunden live mit dabei. Auch auf youtube und Litlounge.tv. Am 21. Oktober moderiere ich in dieser Reihe die Autorin Lena Kiefer, am 11. November Alex Beer.Nächste Woche wartet eine ganz besondere Aufgabe auf mich: Im Literaturhaus München präsentiere ich einen Abend mit der Weltklasse-Tennisspielerin Andrea Petkovich. Sie hat soeben einen Erzählband bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht: „Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht“. Und beim Hugendubel-Onlinefestival „Bookstock“ moderiere ich am 23. Oktober einen Abend mit dem britischen Autor Ben Aaronovitch (Peter-Grant-Reihe bei dtv) – auf all diese besonderen Begegnungen freue ich mich schon!

Ach ja, fast vergessen: Für das Literaturhaus Herne/Ruhr habe ich ein kleines Video mit zwei Buchtipps aufgezeichnet. Mehr hier. 

Im Interview: Marco Balzano

Marco Balzano zählt zu den erfolgreichsten italienischen Gegenwartsautoren. Sein neuer Roman „Ich bleibe hier“ (Diogenes) war für den Premio Strega nominiert, einen der wichtigsten Literaturpreise Italiens. Darin beschreibt Balzano den Widerstandskampf des Südtiroler Dorfs Graun gegen Mussolini und ein Staudammprojekt. Mich hat das reale Drama fasziniert – hier Ausschnitte aus meinem Gespräch mit Balzano:

Warum haben Sie als Schauplatz Ihres neuen Romans ausgerechnet ein kleines Dorf in Südtirol gewählt? Für mich ist Graun der Inbegriff dafür, wie brutal Geschichte sein kann. Es steht für all jene Dörfer, die von politisch-ökonomischen Interessen überrollt wurden, ohne dass die Bevölkerung dies verhindern konnte. Ich erzähle davon, wie ein sinnloser, und blindwütiger Fortschritt nicht nur eine Landschaft zerstört. Sondern auch eine Gemeinschaft und eine ganze Welt. Mein Roman spielt vor etwa 75 Jahren, aber diese Zerstörung findet auch heute noch statt, an vielen Orten.

Was genau ist in Graun passiert? Es wurde ab 1949 überflutet, wegen eines umstrittenen Staudammprojektes. Viele Bewohner kämpften jahrelang dagegen, und 26 Bauarbeiter starben bei der Arbeit. Die sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Folgen für die Enteigneten waren verheerend. Und die verantwortliche Firma ist ihrer moralischen Verantwortung nicht nachgekommen. Ein perfides Beispiel: Die Mitteilungen an die Bevölkerung erfolgten immer bewusst auf Italienisch – einer Sprache, die die Bewohner nicht verstanden; im Vinschgau spricht man Deutsch.

Sprache als Mittel von Macht und Widerstand spielt eine zentrale Rolle in Ihrem Roman, und Ihre Hautfigur ist eine Lehrerin, die Deutsch und Italienisch unterrichtet. Welche Bedeutung hat die Auseinandersetzung mit Sprache für Ihren Schreibprozess? Über die Sprache kann ich Ungerechtigkeiten, Leid und natürlich auch Lebensfreude benennen. Ein Schriftsteller sollte immer versuchen, das Schweigen zum Reden zu bringen – ich sehe das als meine größte Herausforderung. Mir geht es um ein Schweigen, dem es gelingt, das auszudrücken, was man nicht sagen kann, das, wofür die Wörter nicht genügen. Grundsätzlich bedeutet Literatur für mich, die Seiten zu erzählen, die aus den Geschichtsbüchern herausgerissenen wurden; das gilt besonders für Graun. Aus diesem Grund fühle ich mich manchmal wie ein Taucher, der etwas Versunkenes aus der Tiefe des Wassers nach oben ins Licht bringt. In „Ich bleibe hier“ wollte ich eine Frau darstellen, die das Wort als Mittel zum Widerstand verwendet. Auch als das Wasser das Dorf überflutet, auch als Trina alles verliert, auch als sie besiegt ist, bleiben ihr die Worte. Das gilt für uns alle: Solange es uns möglich ist, sie auszusprechen, haben wir nicht alles verloren.

Ihre Protagonist*innen können das allerdings nicht: Schon Mussolini hatte den Südtirolern verboten, ihre Sprache zu sprechen. Wenn man es sich genau überlegt, haben alle Diktaturen immer auch die Sprache betroffen. Sprache bedeutet Gedankenfreiheit, sie ist immer das Gegenteil von Diktatur. Sie ist ein mächtiges Hilfsmittel. In einer freien Welt dürfte man die Muttersprache niemals verlieren.

Wie hat sich Ihrer Meinung nach der Umgang mit Sprache verändert? Die Globalisierung und das Internet haben eine sehr simple Vorstellung von Sprache verbreitet, die – lexikalisch betrachtet – armselig und grob ist. Der Philosoph und Schriftsteller Joseph De Maistre meinte, dass der politische Verfall stets von einem entsprechenden sprachlichen Verfall begleitet ist. Ich glaube, dass diese These momentan sehr gut sichtbar ist. Politiker wie Donald Trump oder Matteo Salvini wären nie dort wo sie jetzt sind ohne diesen sprachlichen Verfall. Wir können selbst entscheiden, ob wir diesen Verfall passiv, von der Ferne aus betrachten wollen oder uns die Sprache, das heißt, das Instrument des Denkens, zu Herzen nehmen.

Die Widerstandskämpferin in Ihrem neuen Roman scheint sich von niemandem aufhalten zu lassen. Betrachten Sie Trina als Heldin? Ganz ehrlich: Ich mag das Wort „Heldin“ nicht. Wenn man jemanden als Helden bezeichnet, heißt das: Du hast die Kraft, also musst du für mich kämpfen, denn ich bin kein Held. Samuel Beckett sagt: „Gesegnet sind die Leute, die keine Helden brauchen.“ Das sehe ich genauso. Wir brauchen stattdessen mehr Bürgerengagement, politische Teilhabe, mehr Sorge für unsere Welt. Sobald diese Dinge fehlen, passiert das gleiche wie in Graun: Das Wasser steigt und überschwemmt alles.

Gab es einen bestimmten Grund, warum Sie sich für die Perspektive einer Frau aus Graun entschieden haben? Ein paar Jahre lang habe ich alles studiert, was über die Geschichte des Dorfes zu finden war. Ich habe mir von Ingenieuren, Historikern, Soziologen, Lehrern und Bibliothekaren helfen lassen. Und vor allem habe ich den Augenzeugen jener brutalen Jahre zugehört; darunter war eine Frau, die mir ein altes Foto in die Hand drückte. Darauf zu sehen war eine Bekannte von ihr, die tief im Wasser stand, mitten in ihrem überfluteten Haus. Da wusste ich, dass ich eine starke und widerstandsfähige Figur wie sie will. Kurz darauf war mir auch klar, dass sie eine Lehrerin sein muss.

Das komplette Interview ist in DER STANDARD erschienen. Direkt zum Text hier.

Foto: Geri Krischker / Diogenes

Im Interview: Burhan Sönmez

Ein Leben zwischen zwei Kulturen: Burhan Sönmez pendelt zwischen Cambridge und Istanbul, außer in Corona-Zeiten. Der international erfolgreiche Schriftsteller wuchs in Zentralanatolien auf und studierte Jura in Istanbul. Die vielfach ausgezeichneten Romane des 55-jährigen erscheinen in mehr als zwanzig Ländern. Vor kurzem wurde „Labyrinth“ (btb) veröffentlicht, die Geschichte eines jungen Musikers mit Gedächtnisverlust. Ich habe Sönmez vor kurzem interviewt (Fotocredit: Hatice Sahin):

In Ihrem neuen Roman erzählen Sie von Labyrinthen – von echten und von jenen im Kopf. Seit wann beschäftigen Sie sich mit Irrgärten? Ich wuchs in einem Dorf in Zentralanatolien auf, das in einer riesigen Steppe lag. Dieses flache Land war durchzogen von ausgetrockneten Flussbetten, den sogenannten Wadis. Sie wurden tief in die Erde gegraben. Als Kind habe ich dort stundenlang gespielt. Wenn ich in einem Wadi stand, konnte ich nichts außer dem Himmel über mir sehen, und es gab zunächst nur zwei Richtungen, in die ich gehen konnte: Vorwärts oder rückwärts. Wenn ich weiter ging, mündeten andere Flussbetten in mein Wadi. Ich musste mich also entscheiden, ob ich nach rechts oder links abbog oder auf meinem Weg blieb. Das fühlte sich an wie in einem Labyrinth.

Haben Sie später andere, echte Labyrinthe entdeckt? Als ich zum ersten Mal nach Istanbul kam, hatte ich ein ähnliches Gefühl wie in den Wadis. Diese Stadt mit 16 Millionen Einwohnern und tausenden von Gassen wirkte auf mich wie ein undurchdringliches Labyrinth. Auch meiner Hauptfigur Boratin geht das so. Nach einem Selbstmordversuch hat er sein Gedächtnis verloren. Er zieht durch seine Heimatstadt, um seinen Erinnerungen auf die Sprünge zu helfen und um aus dem Labyrinth seiner Psyche zu entkommen. Doch das Gewirr der Gassen stürzt ihn in ein weiteres Labyrinth.

Daraufhin beschließt Boratin, nicht weiter nach seinen Erinnerungen zu suchen. Würden Sie sich in dieser Situation ähnlich verhalten? Nein. Ich bin nicht wie er; ich bin ein Mensch, der von Erinnerungen lebt. Für mich sind sie von entscheidender Bedeutung – sie sind die Quelle des Lebens. Meine Vergangenheit begleitet mich überallhin. Wie wohl jeder andere Mensch bereue ich auch bestimmte Dinge, oder hätte sie gerne anders geregelt. Aber normalerweise erinnere ich mich an die guten Momente.

Können Sie Beispiele nennen? Ich denke oft an meine Teenagerzeit, die ich in dem Dorf verbracht habe. Oder an die ersten Jahre, die ich an der Universität in Istanbul verbrachte. Damals kam ich in Kontakt mit Literatur und Politik, was mich sehr geprägt hat. Sie sehen also, ich bin ein Mensch der Vergangenheit. Andererseits frage ich mich: Was, wenn Boratin recht hat und ich falsch liege? Wenn es wichtiger ist, in der Gegenwart zu leben? Ich habe diesen Roman geschrieben um jemanden zu verstehen der anders ist als ich.

Gab es auch in Ihrem Leben einen Moment, der Ihren Blick auf sich selbst und die Welt komplett verändert hat? 1996 passierte tatsächlich etwas, das mein ganzes Leben veränderte. Ich wurde von der türkischen Polizei niedergeschlagen – diese Männer wollten mich töten. Schwer verletzt, musste ich mich operieren und jahrelang behandeln lassen. In diesen Jahren dachte ich manchmal, dass Selbstmord keine schlechte Wahl wäre. Doch zum Glück habe ich überlebt, und diese schreckliche Zeit führte schließlich dazu, dass ich begann zu schreiben. Erst waren es nur Notizen und Ideen in meinem Krankenlager, doch später wollte ich einen Roman daraus machen. Und seitdem bin ich süchtig danach, mich mit Geschichten zu beschäftigen, die ich selbst erfunden habe.

Sie leben seit vielen Jahren in Cambridge und Istanbul. Wie fühlt sich das Pendeln zwischen zwei Kulturen an? Ich sehe es als großen Vorteil an, denn es sind tatsächlich zwei Welten, in denen ich lebe. Das regt den Verstand und die Wahrnehmung an und es bereichert den Geschmack, den man vom Leben bekommt.

Von den in Großbritannien und der Türkei regierenden Politikern dürften Sie allerdings kaum erfreut sein.  Das kann man wohl sagen. Aber ich bin mit dieser Situation vertraut: Was Politiker betrifft, hatte ich nie Glück; immer gerate ich in eine Lage, in der ich gegen grausame, dumme Politiker kämpfen muss. Das ist mein Schicksal. Auf der anderen Seite sehe ich das als Test: Wird es mir gelingen, beharrlich weiterzukämpfen? Bis jetzt schaffe ich das ganz gut.

In Ihren Büchern erzählen sich die Figuren oft gegenseitig Geschichten, oder sie suchen die Geschichte ihres Lebens, wie in „Labyrinth“. Welche Bedeutung hat das Geschichtenerzählen für Sie? Meine Mutter ist eine großartige Geschichtenerzählerin, und die Freude daran empfand sie immer als den Ursprung des Lebens. Als ich klein war, gab es bei uns im Dorf keine Elektrizität. Also saßen wir rund um das gedämpfte Licht einer Gaslampe und lauschten meiner Mutter, die uns wunderbare Geschichten von Feen und Dschinns erzählte. Das ist meine kostbarste Erinnerung.

Was ist das Besondere an den Erzählungen Ihrer Mutter? Beim Geschichtenerzählen ist nicht das Entscheidende, wie man sie vorträgt oder worum es geht. Der Punkt ist vielmehr der Wunsch und das Verlangen, sie erzählen zu wollen. Meine Mutter war darin eine Meisterin. Sie fragte uns stets: „Na, wollt ihr eine Geschichte hören?“ Und wie wir das wollten! Ihre Geschichten waren wie ein verborgener Schatz, der durchs Erzählen gehoben wurde.

In Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und social distancing ist das gegenseitige Geschichtenerzählen nur noch über Internet oder Telefon möglich. Wie werden wir diese Phase ohne Sozialkontakte überstehen? Es ist möglich. Menschen sitzen jahrelang in dunklen Gefängniszellen und überleben. Jetzt sind wir alle in unseren eigenen Zellen, wie in einem Sciene-Fiction-Film. Nur dass es diesmal real ist. Aber auch wir werden überleben und uns dann über die Dinge austauschen, die uns geholfen und bewegt haben. Erinnern Sie sich an Robinson Crusoe? Er strandete auf einer einsamen Insel und erschuf sich eine komplett neue Welt. Und wir? Den einzigen Rat, den ich geben würde, ist: Wir sollten versuchen uns die Lebensfreude zu bewahren und denen helfen, die uns brauchen.

Wie hat sich Ihr Leben durch Corona verändert? Ich reise nicht mehr, aber davon abgesehen ist mein Leben nahezu gleich geblieben. Ich lese und schreibe fast den ganzen Tag, so wie immer. Schlimm an der Situation ist allerdings, dass ich meine Mutter und meine Geschwister nicht besuchen kann. Andererseits freue ich mich, dass ich nun mehr Zeit mit meiner Frau und meinen Kindern verbringe.

Im Interview: Harry-Potter-Illustrator Jim Kay

Vor vier Jahren startete Harry-Potter noch einmal von vorne: die erfolgreichste Buchreihe der Welt erscheint seitdem auch in farbig illustrierten Schmuckausgaben im Großformat – jedes Jahr ein neuer Bildband. Für den englischen Illustrator Jim Kay entwickelte sich dieser Auftrag zur größten Herausforderung seiner Karriere. Der 45-jährige studierte Illustration an der University of Westminster und wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis. Vor kurzem ist der vierte von Kay illustrierte Band erschienen, „Harry Potter und der Feuerkelch“ (Carlsen). Hier Auszüge aus meinem Gespräch mit dem sympathischen Briten:

Welche Figur aus den Harry-Potter-Büchern zeichnen Sie am liebsten? Der Halbriese Hagrid ist mein absoluter Favorit. Ich liebe seine wilden Locken und seinen Rauschebart, und wie all das zusammenwächst. J.K. Rowling hat ihn als 3,51 Meter groß beschrieben, und diese Größe ist für einen Illustrator eine enorme Herausforderung.

Warum? Sie können sich doch so viel Platz nehmen, wie Sie wollen. Das schon, aber alles um Hagrid herum muss ins richtige Verhältnis gesetzt werden. Auf einem Bild von mir räkelt sich ein enormer Hippogreif auf dem Bett in Hagrids Hütte, und ich fragte mich beim Zeichnen: Wie kann ich diese unglaublichen Ausmaße verdeutlichen? Die Lösung: Ich platzierte zwei ganz normale Hühner ins Bild – diese wirken nun allerdings wie geschrumpft, weil Hagrids Hütte und der Hippogreif gigantisch sind.

In den Verfilmungen wird Hagrid von Robbie Coltrane gespielt. Durften Sie sich beim Illustrieren von ihm und den anderen Schauspielern lösen? Zum Glück ja! Ich sollte und wollte für die Schmuckausgaben ganz eigene, neue Bilder von den Figuren machen. Was nicht leicht war, denn früher, beim Lesen der Bücher und später beim Anschauen der Filme hatte ich ja schon zwei Mal Vorstellungen von der Potterwelt entwickelt. J.K. Rowling hat durch ihre Beschreibungen viel vorgegeben, besonders bei Harry; das habe ich selbstverständlich übernommen. Aber bei einigen Figuren blieb ein kreativer Spielraum, und den habe ich voller Freude genutzt.

Um wen ging es, und wie sind Sie dabei vorgegangen? Der Zauberer Severus Snape basiert in meinen Illustrationen auf meinem guten Freund David. Ich fand, dass er optisch perfekt zur Figur Snapes passt, vor allem wegen seiner tieftraurigen Augen. Nun sehe ich immer David, wenn ich Snape sehe, und nicht mehr Alan Rickman, der ihn in den Verfilmungen spielte.

Ihre Hermine Granger unterscheidet sich ebenfalls. Die Darstellerin Emma Watson erkennt man kaum in Ihren Illustrationen. Stimmt. Bei Ihr habe ich mich nach meiner Nichte gerichtet. Noch lustiger wird es bei Familie Weasley: Molly, die Mutter, basiert auf einer Bekannten. Und zwei von Mollys sieben Kindern sehen so aus wie die beiden realen Kinder dieser Frau. Für mich hat das Illustrieren nach echten Vorbildern zwei entscheidende Vorteile: Ich habe ein reales Modell, und ich kann das Altern der Figuren in der Wirklichkeit beobachten. Das ist wichtig, denn die sieben Potter-Bände umfassen ja eine große Zeitspanne. Drei habe ich noch vor mir.

Womit und worauf zeichnen Sie Ihre Originale? Meistens mit einfachen Bleistiften auf großen Papierbögen. Die ersten Entwürfe sind fast alle schwarz-weiß, oft 20, 30 Stück, bevor ich mir sicher bin. Erst später verwende ich Farben, und dabei bevorzuge ich einfache Wand- und Fassadenfarben. Obwohl ich auch mit dem Pinsel arbeite, bin ich aber eigentlich der Skizzentyp, der pausenlos Ideen aufs Papier kritzelt und sie immer wieder verwirft und verbessert. Das geht oft stundenlang so, bis in die Nacht und manchmal auch bis zum Morgen. Ich bin sehr selbstkritisch und so gut wie nie mit den ersten Versuchen zufrieden.

Setzen Sie beim Illustrieren auch digitale Technik ein? Zur Sicherheit, ja. Viele Varianten meiner Bilder speichere ich ab, um zu vorherigen Stadien zurückkehren zu können, wenn ich am Originalbild so weitergearbeitet habe, dass es mir nicht mehr gefällt. Es beruhigt mich zu wissen, dass es alles noch einmal gibt. Selbstverständlich illustriere ich auch digital, aber das sind eher Ausnahmen. Manchmal erzielt man damit großartige Effekte: Den Hirsch namens Krone, Harrys verwandelten Vater, malte ich erst auf Papier, digitalisierte ihn anschließend und reproduzierte ihn als Negativ. Das ergab einen geisterhaften, unheimlichen Ausdruck. Genau so silbern und schimmernd, wie J.K. Rowling ihn beschreibt.

In welcher Verbindung stehen Sie zu J.K. Rowling? Wir schreiben uns ab und zu Briefe oder Mails, um Details zu klären, aber ansonsten kommuniziere ich mit ihrem Verlag. Es ist überwältigend, dass J.K. Rowling mich für diese Aufgabe ausgewählt hat. Ihr Briefkopf wird übrigens tatsächlich von einer goldenen Eule geschmückt.

 

Im Interview: Doris Dörrie

Seit vielen Jahren ist Doris Dörrie eine meiner Wunsch-Interviewpartnerinnen. Nun hat es geklappt – ich traf die Filmemacherin und Schriftstellerin in einem Schwabinger Café. Wir sprachen über ihre Berufung in die Oscar-Jury, ihre Kindheit, ihr Studium in den USA, ihre Faszination für Japan und ihr neues Buch „Leben, Schreiben, Atmen“ (Diogenes). Hier Auszüge aus dem Gespräch, über das ich u.a. für WAZ, Südwest Presse, Abendzeitung, Sächsische Zeitung und Nürnberger Nachrichten geschrieben habe.

Der Titel Ihres neuen Buches impliziert, dass das Schreiben ein Grundbedürfnis ist. Könnten Sie leben, ohne etwas zu Papier zu bringen? Nein. Das ist tatsächlich ein existenzielles Grundbedürfnis, so wie das Lesen. Denn schreibend und lesend halte ich mich am Leben und überlebe. Jeden Tag wieder aufs Neue. Ich schreibe, um diese unglaubliche Gelegenheit, am Leben zu sein, ganz genau wahrzunehmen und zu feiern.

Was genau passiert bei Ihnen in diesem Prozess? Das ist ein großes Abenteuer. Zu schreiben bedeutet, sich aus dem kleinen ordentlichen Garten mit gemähtem Rasen und Blumenrabatten herauszuwagen in den Dschungel. Ich gehe raus, beobachte, staune und erlebe, und notiere das. Indem ich meine Erlebnisse in Sprache fasse, verankere ich mich selbst mehr im Leben. Ich kann das nur jedem empfehlen: Wer schreibt, bekommt eine Ahnung von sich selbst. Und das ist wunderbar.

Hatten Sie schon als Kind das Talent zum Schreiben? Zunächst nicht. Alle anderen konnten es, nur ich nicht. Ich war Linkshänderin und mühte mich mit allem ab. Doch in der dritten Klasse änderte sich alles. Ich wurde für den Vorlesewettbewerb ausgewählt, genoss diesen Auftritt und bekam prompt den ersten Preis. Seitdem weiß ich: Ich bin eine Rampensau.

Wie kam es zu dieser Verwandlung? Es ist ein kleines Wunder passiert. Zum einen war es ein unglaublicher Kick zu merken, wie Geschichten Menschen in den Bann schlagen können. Ich spürte, wie sich die Atmosphäre im Raum veränderte, wie aus Worten Bilder wurden und wenige Sätzen eine ganze Welt heraufbeschwören konnten. Das hat mich umgehauen. Rückblickend habe ich mich als Kind völlig in Märchenwelten und Geschichten verloren, so wie alle Kinder.

Wann und wo schreiben Sie am liebsten? Im Bett, gleich nach dem Aufwachen. Die Zähne habe ich dann schon geputzt, und einen Becher Kaffee neben mir. Der noch leicht somnambule Zustand hilft, Blödsinn zu schreiben, überhaupt zu schreiben. Wenn ich aufstehe, mich wasche und anziehe, ist es vorbei.

Wann wird aus Ihren privaten Beobachtungen ein Film oder ein Buch? Die Übergänge sind fließend. Ich bin eine Flaneuse, die Lust am Aufsaugen der Welt und am Wiedergeben des Erlebten hat. Manche Figuren, die ich aufschreibe, wollen zum Film, manche nicht. Manchmal starte ich mit einer Prämisse, wie bei „Grüße aus Fukushima“ – den Ort wollte ich filmisch beschreiben, und die Figur der jungen Deutschen gab es schon in anderen Geschichten von mir als Vorstufe. Aber erst einmal lasse ich mich beim Schreiben vom allem inspirieren, selbst von fremden Einkaufszetteln, die ich sammle.

Es scheint, als seien Sie ein Mensch, der spontan auf Dinge stößt und sich auf neue Begegnungen einlässt. Da ist etwas dran. Ich versuche, immer wieder möglichst offen zu sein und Dinge an mich herankommen zu lassen. Wir haben viel zu oft den Impuls uns zu verschließen, und das ist fatal, das verhindert Kommunikation und macht einsam.

Haben Sie sich diese Grundeinstellung schon während Ihres Studiums in den USA angeeignet? Vielleicht ist dafür eher meine Neigung zu buddhistischen Sichtweisen verantwortlich. Aber die USA war natürlich sehr entscheidend für mich; ich habe dort eine unglaubliche Freiheit empfunden. Vieles, was jetzt wieder ein großes gesellschaftliches Thema ist, wurde damals schon heiß diskutiert: Konsumkritik, ökologische Aspekte, das Hinterfragen von Machtstrukturen. Im Gegensatz zu Deutschland habe ich mich in den USA dauernd ermuntert gefühlt, auch beim Schreiben. „Just do it!“ war das Motto. Das war eine große Befreiung für mich. Diese prinzipielle Ermunterung versuche ich weiter zu geben.

Später entdeckten Sie Japan für sich und waren inzwischen mehr als 30 Mal dort. Inwiefern hat dieses Land Sie geprägt? Für mich war der erste Besuch der wichtigste. Dieser Schock, mich nicht mehr über Sprache verständigen zu können, nichts mehr lesen zu können, auf einen Schlag völlig auf mich zurückgeworfen zu sein – das hatte eine euphorisierende Wirkung. Ich war verdonnert dazu, genau zu beobachten und registrieren, was vor sich geht. Diese Notwendigkeit hat mir viel gebracht und letztlich zu Filmen wie „Kirschblüten – Hanami“ geführt.

Ab nächstem Jahr dürfen Sie über die Vergabe der Oscars mitbestimmen. Wie haben Sie von dieser Ehre erfahren – gab es einen Anruf der Academy of Motion Picture Arts and Sciences? Ganz im Gegenteil. Mein Mann hatte im SPIEGEL von meiner Berufung gelesen und mir erzählt, ich dachte, das wäre eine Falschmeldung oder ein Witz. Denn ich wusste von nichts. Wochen vergingen, auch andere Medien berichteten darüber, und so fragte ich nach. Dabei stellte sich heraus, dass die Academy meine Mailadresse falsch geschrieben hatte.

Wie stehen Sie grundsätzlich zum Oscar? Ihre Filme scheiterten mehrmals in der Vorauswahl zum Auslandsoscar.  Da ich kaum Nazis in meinen Filmen habe, ich das auch nicht verwunderlich. Aber im Ernst: Die Frage ist, ob man demokratisch über die Qualität eines Kunstwerks entscheiden kann. Meistens gibt es einen kommerziellen Kompromiss, und das bedeutet, dass so begeisternde Filme wie „Moonlight“ die Ausnahme bleiben. Man darf auch nicht vergessen, dass Hollywood eine Industrie ist. Dort werden Produkte hergestellt, reproduzierbare Waren. Für Kunst ist da nicht viel Platz.

Ursula Poznanski im Interview

Acht Kinderbücher, neun Jugendbücher, sieben Thriller – und jetzt der Start einer neuen Krimi-Reihe, „Vanitas, Schwarz wie Erde“ (Knaur): Ursula Poznanski ist eine der produktivsten, vielseitigsten und erfolgreichsten deutschsprachigen Autorinnen. Ich habe gestern Abend die Lesung der 50-jährigen Wienerin in München moderiert. Hier Auszüge aus unserem Gespräch:

Unterscheidet sich Ihr Schreibprozess, wenn Sie an Büchern für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene arbeiten? Nein, nicht besonders. Erwachsenen kann ich aber mehr zumuten, vielleicht auch mal kein Happy-End. Und bei Kindern muss ich manchmal überlegen, ob sie bestimmte Worte kennen – über „oszillierend“ habe ich zum Beispiel gerade nachgedacht, und es dann weggelassen. Und bei Schallplatten war ich mir nicht sicher, ob die meisten Jugendlichen sie überhaupt noch kennen. Grundsätzlich läuft die Schreibarbeit aber sehr ähnlich ab: Ich nehme mir jeden Tag vier bis sechs Seiten vor, und das ziehe ich dann durch.

Liest Ihr Sohn Ihre Bücher? Zurzeit leider nicht – er beschäftigt sich lieber mit Computerspielen. Aber ich nehme das nicht persönlich, denn er liest auch keine anderen Bücher. Und irgendwann kommt er hoffentlich wieder auf den Geschmack.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, Ihre neue Hauptfigur Carolin in einem Blumenladen arbeiten zu lassen? Weil Blumen der größtmögliche Unterschied zu ihrem Leben davor sind. Carolin hatte als Polizeiinformantin einige schlimme Erfahrungen gemacht und musste eine neue Identität annehmen. Im Umfeld der Blumen kann sie sich ein bisschen davon erholen; aber nicht zu lange, dann wird sie von ihrer Vergangenheit eingeholt. Und der Wiener Zentralfriedhof ist gleich um die Ecke des Ladens – die Toten sind immer in Carolins Nähe.

Stimmt das Klischee, dass die Wiener den Tod mögen? Da ist schon etwas dran. In „Vanitas“ schreibe ich: „Nirgendwo sonst ist man mit dem Tod so gerne per Du“. Das hat eine große, schaurige Tradition. Denken Sie nur an das Lied „Es lebe der Zentralfriedhof“ von Wolfgang Ambros aus dem Jahr 1974. Ich finde die Vorstellung völlig in Ordnung, das der grantige Gevatter Tod durch Wien zieht – und durch meine Thriller.