Warum ich keine Bücher verreiße

Ich habe keine Lust auf Verrisse. Auf die akribische Suche nach Schwächen und Fehlern, auf eitle Belehrungen und verletzende Schmähungen.

Wozu sollte das auch gut sein? Wem hilft es, wenn Literaturkritiker*innen den Platz, der ihnen in Medien zur Verfügung steht, für Bücher nutzen, von denen sie abraten? Klar: Wenn selbstgefällige Rezensenten ein vernichtendes Urteil fällen, gibt es Schlagzeilen, Klicks und mediales Echo. Aber: Wäre es nicht viel besser, konstruktive Kritik zu üben? Begründete Empfehlungen zu geben? Zum Kauf guter Bücher anzuregen statt vom Erwerb schlechter Literatur abzuraten?

Literaturkritik ist ein komplexes, widersprüchliches Thema. Sie schwebt irgendwo zwischen Journalismus und Literaturwissenschaft, zwischen Lesebegeisterung und Prüfmechanismen. Rezensionen sind so vielfältig wie ihre Verfasser*innen, und die Bandbreite von Literaturkritik ist enorm – sie wird seit Jahren immer größer. Ihr Spektrum reicht von digitalen Buchplattform-Kommentaren, Leserkreis-Tipps und Regionalzeitungs-Buchbesprechungen, über Blogs und Vlogs, bis zur literaturgeschichtlich eingeordneten Feuilletonkritik in Qualitätsmedien.

Diese Vielfalt ist wichtig. Und es lohnt sich, den riesigen Raum zwischen Lob und Tadel, Demütigung und Glorifizierung, Empfehlung und Analyse zu untersuchen. Was passiert dort? Warum begeistern sich die einen für Bücher, während die anderen Werke schmähen? Und was macht mehr Sinn?

Beginnen wir damit, was für mich „gute“ Literatur ist. Bei meinen Rezensionen lege ich ganz bewusst den Bewertungsfokus auf den unmittelbaren Effekt von Romanen. Denn sie sollten Reaktionen auslösen: Freude, Empathie, Spaß, Überraschung, Bestätigung, Trauer, Wut, Fassungslosigkeit. Bloß nicht: Gleichgültigkeit und Langweile. In der Folge passiert dies: Gute Bücher wecken Interesse und schaffen Verständnis für die Situation anderer Menschen. Sie irritieren, verstören, kurz: sie berühren die Seele. Sie unterhalten nicht nur, sondern regen indirekt an, über sich und die Welt nachzudenken. Wenn wir beim Lesen etwas über andere Lebenswelten (oder uns selbst) lernen, verstehen wir diese (und uns) besser.

Gleichzeitig dürfen und sollen uns Geschichten aus dem Alltag entführen, geradezu wegbeamen, und wenn sie das können, wenn sie uns vergessen und abschalten lassen, wenn sie zur Erholung und Erfüllung beitragen, dann sind sie gute Geschichten. Davon bin ich überzeugt.

Moment mal! Ruft an dieser Stelle die traditionelle Literaturkritik. Das ist doch eine völlig unqualifizierte, subjektive Wohlfühlperspektive. Wo bleiben die üblichen Kriterien? Die Qualitätsmaßstäbe betreffend Sprache, Aufbau, Originalität und Relevanz?

Keine Sorge. Sie gelten nach wie vor. Und sie sollten auch Teil (m)einer Rezension sein. Aber sie sollten unterschiedliche Zielgruppen berücksichtigen und nicht von oben herab gepredigt werden. Vor allem sollten sie nicht davon ablenken, dass auch eine scheinbar objektive Beweisführung eines Experten subjektiv ist – anerkannte Literaturkritiker widersprechen sich häufig. Dieser Diskurs ist erfrischend, doch die alleinige, einseitige Vernichtung eines Werkes ohne Widerspruch, das Contra ohne Pro, ist – ja, kontraproduktiv. Eine Seite Verriss – wozu? Um sich an der eigenen Überlegenheit zu erfreuen? Um sich über ein Buch echauffiert zu haben, während dutzende empfehlenswerte Bücher keine Erwähnung finden? Das schadet der Literatur.

Nicht zu vergessen: Auch ein herausragender literarischer Text kann zum Gähnen langweilig sein, wohingegen eine scheinbar simple Geschichte bewegen und begeistern kann.

Ja, wir brauchen professionelle Literaturkritik. Um Bücher einordnen und einschätzen zu können. Um für unsere Leseentscheidung mehr zur Verfügung zu haben als Klappen- und PR-Texte oder Online-Kommentare. Kritik dient immer als Orientierung, und es hat auch durchaus seinen Reiz, wenn Denis Scheck in „Druckfrisch“ schonungslos über die Titel der Bestsellerliste urteilt. Er darf das. Denn im Rest seiner Sendung lobt und feiert er die Literatur so schwärmerisch wie kaum ein anderer renommierter Kritiker.

Selbstverständlich nähere ich mich den zu begutachtenden Werken kritisch. Doch die Stärken hervorzuheben und die Schwächen zu erwähnen, erscheint mir sinnvoller als den Finger in die Wunde zu legen. Falls mir ein Roman überhaupt nicht zusagt, schreibe ich einfach nicht darüber. Denn die Zeilen, die ich für eine Abrechnung verbrauchen würde, fehlten für Literatur, die ich ans Herz legen möchte. Und davon gibt es mehr als genug.

18 Gedanken zu “Warum ich keine Bücher verreiße

  1. Wurde auf Amazon gerade selbst verrissen. Mit falschen Behauptungen und untergriffigen Aussagen . Muss man aushalten, auch wenn es trotz überwiegend positiver Rezensionen einige vom Kauf abhalten wird.

  2. Hallo Günter, Du hast so recht mit Deinen Ausführungen . Über Buch-Geschmäcker – und Lesevorlieben kann man eh nicht streiten und ich als Hobbyleserin kann zum Beispiel kaum eine begründete Kritik über Stil, Aufbau und Sprache eines Buches aufbauen.
    Herzliche Grüsse
    Angela

  3. Hallo Günter,

    Danke für diese Zeilen, die richtiggehend gut tun und zeigen, dass es auch noch andere Menschen gibt, die so denken. Ich schreibe zwar ab und zu mal kritisch über Bücher, versuche aber auch immer das herauszuholen, was positiv war. Es ist nicht immer einfach subjektiv zu sein, aber es erleichtert dir Arbeit ungemein, da man seine ganz eigenen Kriterien ansetzen kann.

    Viele Grüße
    Marc

  4. So sollte es sein.
    Die Kirkus Reviews gehen zwar oft recht unzimperlich mit Autoren und ihren Romanen um, allerdings stets auf witzige Art und mit Respekt vor der Gürtellinie.

  5. Hallo Günter,

    besteht nicht ein großer Unterschied zwischen einem Verriss und einer gut geschriebenen (negativen) Kritik? In der Bewertungs-Sternchen-Welt würde das heißen, dass eine Ein-Stern-Bewertung, die gut geschrieben durchaus seine Berechtigung hat, solange sie gut begründet ist.

    Warum sollte ich als Leser auch nicht meine Enttäuschung über ein Buch kundtun, an das ich hohe Erwartungen geknüpft habe? Ich finde, dass negative Meinungen zu einem Buch unbedingt dazugehören – eben mit der Einschränkung, dass der Autor der Zeilen kann Spaß daran hat, ein Buch einfach nur schlecht zu machen (was in meinen Augen mit jedem Buch möglich ist, wenn man es denn darauf anlegt).

    BTW: Warum gibt es das Wort „Literaturkritiker*innen“ aber nicht den Leser*innenkreis? 😉

    Viele Grüße
    Frank

    • Du hast natürlich recht: kritische Meinungen gehören zum Meinungsbildungsprozess dazu! Nur ich habe keine Lust mehr darauf, das überlasse ich gerne anderen.

      Mich stört, dass oft eben nicht Pro & Contra, sondern nur Contra vermittelt wird – und das ist schade um den Platz, der dafür in Medien verbraucht wird. Dass Leser*innen ihre Enttäuschung kundtun, finde ich gut. Sonst stünden nur gefakte Lobeshymnen unter den Büchern.

      Zu deiner Gender-Sprache-Frage: Konsequenterweise müsste es tatsächlich Leser*innenkreis heißen. Aber wir alle lernen ja zurzeit dazu und um und wissen oft nicht so genau, was nun gerade richtig oder wichtig ist. Und wer weiß, was in einem Jahr üblich ist… 😉

      • Ja, das ist leider wohl wahr, dass die Twitter- und Facebook-Mentalität manchmal überschwappt und oftmals kaum (manchmal auch gar nicht) auf den Inhalt eines Buchs eingegangen wird. Dann fehlt nicht nur das Pro, sondern auch gleich das Contra. 🙂

  6. „Falls mir ein Roman überhaupt nicht zusagt, schreibe ich einfach nicht darüber. Denn die Zeilen, die ich für eine Abrechnung verbrauchen würde, fehlten für Literatur, die ich ans Herz legen möchte. Und davon gibt es mehr als genug.“ Finde ich gut!!!! – Ob ich allerdings ein Buch langweilig finde, ob es „meine Seele“ berührt, ist schon etwas Subjektives. Es gibt sogar Bücher, die mich in einer bestimmten Lebensphase total aufgewühlt haben und mich jetzt eher kalt lassen: Z.B. Damian von Hesse … Oder die mal stärker mal schwächer wirken … Deshalb ist der „Unterhaltungswert“ nicht so unbedingt ein objektives Kriterium. Ich wäre gespannt, wie beispielsweise KritikerInnen die Werke von Thomas Bernhard einschätzten, wenn er nicht kanonisiert, sondern frisch auf den Markt als unbekannter Autor käme ….

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