Ulrich Tukurs Zeitreise

Stellt Euch vor, Ihr findet in einem alten Fotoalbum Bilder von Euch selbst. Aber Ihr selbst könnt es nicht sein. Es muss eine andere Person sein, rund hundert Jahre vor Euch. Genau das passiert der Hauptfigur in Ulrich Tukurs neuem Roman „Der Ursprung der Welt“ (S.Fischer). Paul Goullet, der im Jahr 2033 in Deutschland lebt, findet in einem Fotoalbum in Paris Bilder, die ihn selbst zeigen. Ein Schock. Aber auch eine Chance.

Paul beschließt, seinem Alter Ego auf die Spur zu kommen. In Südfrankreich. Er reist mit dem Zug nach Perpignan, Port-Vendres und Banyuls. Immer wieder wird er von Polizisten und Militärs kontrolliert, denn Frankreich hat sich zu einem totalitären Überwachungsstaat entwickelt. Wer nicht gehorcht oder kein Visum hat, wird in Straf- oder Arbeitslager gebracht. Und, fast genauso beängstigend: Immer wieder reagieren andere Leute überrascht und schockiert, sobald sie Paul sehen, und er selbst findet sich in den Städten auf seiner Reise ganz leicht zurecht – obwohl er noch nie dort war.

Ulrich Tukur hat eine außergewöhnliche Dystopie geschrieben. Keinen aufgeregten Thriller, sondern eine besonnen und rätselhaft erzählte, spannende Geschichte. Die Zeiten darin scheinen zu verschwimmen; mal lebt Paul in 2033, mal in 1943.

„Das Leben ist ein Abgrund, dachte er, in dem jeder mit dem anderen zusammenhing,, ein unendlich fein verzweigtes, unterirdisches Geflecht, das die Erde seit Jahrtausenden durchzog und alles Böse und Gute, Tote und Lebendige miteinander verband.“

Paul driftet in Träume ab, er lebt als andere Person 1943 und wacht doch wieder 2033 auf. Dieser Mann ist eine faszinierende Figur: Eine, die sich den modernen Zeiten verweigert, kein Smartphone besitzt und die bereit ist, sich den Geheimnissen seiner Vorfahren zu stellen. Auf seiner Reise lernt er unter anderem eine 86-jährige ehemalige Chansonsängerin kennen, die Inhaberin einer Pension. Sie raucht Zigarillos, und sie scheint Paul gut zu kennen. Woher nur?

Ein Buch über Träume und Widerstand, über Heute und Gestern. Ein Buch gegen „die rapide Zerstörung unserer poetischen Spielgründe“, wie Tukur im Vorwort meint.

Im Interview: Ulrich Tukur

urheber180Schauspieler Ulrich Tukur (Foto: Katharina John) ist nun auch Autor. Ganz offiziell. Kann er das? Ja. Und wie. Ich habe mit dem 56jährigen gesprochen – hier Auszüge aus dem Interview:

Herr Tukur, Sie nennen Ihren ersten Roman „Novelle“. Bei diesem Wort denkt man eher an Kleist, Fontane und Storm als an aktuelle Belletristik. Ich wollte unbedingt, dass diese Geschichte eine „Novelle“ sei. Es ist ein hübsches, altmodisches Wort und klingt wirklich nach Theodor Storm, den ich im Übrigen sehr verehre. Und wenn man davon ausgeht, dass eine Novelle ein kurzer Roman ohne allzu komplexe Handlungsstränge ist, dann ist mein Buch vielleicht ja auch im germanistischen Sinne eine Novelle.

Die „Spieluhr“-Covergestaltung wirkt retrospektiv, außerdem verwenden Sie die alte Rechtschreibung und springen aus der Gegenwart mehrmals in die Vergangenheit. Was haben Sie gegen die Moderne? Gar nichts. Aber das Buch sollte ein ästhetisches Gesamtkunstwerk sein. Eines, das sich nicht an der Wirklichkeit abarbeitet – ich wollte eine Art schwarz-romantisches Märchen schreiben. Dazu passen der Einband, das Papier, die Schrift und vor allem die Sprache. 

Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben? Sprache ist für mich nicht nur das Mittel zur Weitergabe von Informationen, sondern auch ein Wert für sich. Sie soll musikalisch sein, klingen, schön sein – ohne dabei zum reinen Dekor zu verkommen. „Die Spieluhr“ ist in einer Sphäre angesiedelt, in der Gegenstände unserer Wirklichkeit wie Autos, Flugzeuge, Kühlschränke als sonderbare Erinnerungen einer versunkenen Welt aufscheinen. Die Traumwelt der Spieluhr ist die wirklichere Wirklichkeit.

Das klingt, als ob Sie gerne aus der Realität flüchten. Ich glaube, dass sich um uns herum Dinge abspielen, die mit den rationalen Mitteln der Wissenschaft nicht zu erfassen sind. Man muss ein Sensorium für das Geheimnis haben und es respektieren. Ich lebe in allen möglichen Zeiten und Welten, ich tanze Tango in einem Berliner Nachtlokal 1927, jage Auerochsen mit keltischen Kriegern am Oberlauf der Donau oder sitze bei Kerzenlicht in einem kleinen Tübinger Turmzimmer und schreibe ein romantisches Gedicht mit Federkiel und Tinte.

Wie schreiben Sie selbst? Ich trage immer ein großes schwarzes Notizbuch bei mir und einen alten, silbernen Druckbleistift. Damit notiere ich, was mir einfällt. Mit einem Kugelschreiber oder Filzstift kann ich nicht schreiben.

Also nutzen Sie keinen Laptop? Doch, aber nur zum Übertragen und Sortieren meiner Notizen. Im schöpferischen Vorgang selbst hat die Elektronik nichts verloren, da bin ich strikt analog.

 

Magisch: Ulrich Tukurs Reisen

tukuSo, so. Eine Novelle soll das sein. Sagt Ulrich Tukur. Und tatsächlich: die nahezu vergessene Etikettierung passt zu seinem Stil – und zum Inhalt. Denn „Die Spieluhr“ (Ullstein) beginnt zwar in der Gegenwart, springt aber in vergangene Zeiten. Geschrieben ist die Geschichte in klug gewählten Worten mit nostalgischer Note und in alter Rechtschreibung. Zur Handlung: ein deutscher Schauspieler erkundet nach Dreharbeiten in Frankreich ein altes Schloss. Dort stößt er auf Spuren des Mannes, dessen Rolle er vor der Kamera gespielt hat – Wilhelm Uhde, ein Kunstsammler, der als Entdecker von Picasso und Rousseau gilt. Der Schauspieler taucht in die Welt Uhdes ein und entdeckt magische Bilder. Weitere mysteriöse Erlebnisse folgen. „Was in aller Welt ging hier vor?“ fragt sich der Schauspieler. Auch Tukurs Leser fragen sich, wo sie sind: in der Realität oder in einem Traum, in einem Märchen oder in einem historischen Roman? Die Reisen durch Zeiten und Welten könnten verwirren oder aufgesetzt wirken, doch Tukur macht das Unwirkliche wirklich. Er erzählt ein Märchen mit realen Figuren, eine verspielte, kurze Geschichte. Seine Novelle ist eine Liebeserklärung an die Macht der Malerei und die Magie der Musik. Mehr über Tukur bald hier im Blog – ich habe ein spannendes Interview mit ihm geführt.