Boris Johnson, die Kakerlake

Er ist es, eindeutig. Auch wenn er zu Beginn dieser Erzählung noch sechs Beine hat.

In „Die Kakerlake“ (Diogenes) zeigt Ian McEwan den britischen Premier Boris Johnson als – nun ja, Kakerlake. Das ist der satirische und fantastische Anteil der Geschichte. Später, nach der Verwandlung des Sechsbeiners in einen Zweibeiner namens Jim Sams, porträtiert McEwan Johnson so, wie wir ihn kennen: Als skrupellosen Wahrheitsverdreher und ungezügelten Propagandisten, berauscht von Macht, Ego, Aufgabe und Amt. Das ist der realistische Anteil der Geschichte.

Ian McEwan hat einen eleganten Weg gefunden, sich seine Wut und seinen Schock über Boris Johnson und den Brexit von der Seele zu schreiben. Auf nur 132 Seiten erzählt er komisch und wahr, witzig und bitterböse von der aktuellen britischen Politik. Um Fakten oder gar die Regeln der parlamentarischen Demokratie geht es seiner Hauptfigur Jim Sams nicht. Sondern allein darum, egoistische Ziele zu verfolgen und diese als „den Willen des Volkes“ durchzusetzen.

Den Brexit erwähnt McEwan übrigens nicht. Sein Premierminister kämpft für etwas ähnlich Absurdes: Dem Reversalismus, der Umkehr des Geldflusses. Ein kompletter Schwachsinn, für den sich Jim Sams und seine unterwürfigen, opportunistischen Kabinettsmitglieder (bis auf eine Ausnahme ebenfalls Kakerlaken) einsetzen.

Eine kurze, funkelnde Politsatire. Brillant formuliert und so entlarvend, dass einem das Lachen oft im Halse stecken bleibt. Franz Kafka, der 1912 in „Die Verwandlung“ von einem Mann erzählt, der zur Kakerlake wird, hätte wohl seine Freude daran.

McEwan und der Brudermord

ian mc ewan, nussschale, rezension, literaturblog, günter keilVieles deutet darauf hin, dass Ian McEwan an „Nussschale“ (Diogenes) mehr Spaß hatte als an all seinen vorangegangenen Romanen. Schon der erste Satz, reinstes Vergnügen: „So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau.“ Doch bald geht es um Leben und Tod.

McEwan erzählt seine subtile Geschichte aus der Perspektive eines Ungeborenen. Zwei Wochen sind es noch bis zu seiner Geburt, und doch ist dieser Fötus intelligenter als viele Erwachsene. Er reflektiert über das Weltgeschehen, und er bangt um seine Zukunft. Weil seine Mutter einen Mord begehen will. Trudy, so heißt die Londonerin, will ihren Gatten John umbringen. Mit seinem Bruder Claude hat sie eine Affäre, und gemeinsam wollen die Liebenden John aus dem Weg räumen. Ein Brudermord, der an „Hamlet“ erinnert.

Direkt aus dem Mutterbauch heraus entfaltet Ian McEwan ein virtuoses Kammerspiel. Ein mörderisches und auch köstliches Vergnügen, wie das Ungeborene einräumt: „Ich weiß, dass Alkohol meiner Intelligenz schadet. Er schadet jedermanns Intelligenz. Aber ach, ein wonniger, die Wangen rötender Pinot Noir, ein stachelbeeriger Sauvignon, lassen mich durchs inwendige Meer taumeln und purzeln, bis ich gegen die Wände meines Schlosses kugle, dieser Springburg, in der ich hause.“

Richterin in Not

mcewanStarke Frau, schwache Frau: Die angesehene Richterin Fiona Maye, 59, fällt brillante Urteile am Londoner High Court. Doch privat entgleitet ihr die Ehe mit einem Geschichtsprofessor. In diesem Spannungsfeld spielt Ian McEwans neuer Roman „Kindeswohl“ (Diogenes). McEwan findet mit diesem kurzen Drama zu seiner alten Stärke zurück – und steigt sehr detailliert in die Fälle ein, über die Maye am Familiengericht entscheiden muss. Brisantes Beispiel: Ein 17jähriger Junge leidet unter Leukämie und benötigt dringend eine Bluttransfusion. Doch seine Familie – Zeugen Jehovas – lehnt dies aus religiösen Gründen ab. Die Richterin entschließt sich, den Jungen in der Klinik zu besuchen. Und ahnt nicht, dass sie dadurch eine gefährliche Verbindung aufbaut. Ian McEwan steigert die Spannung wie in einem Thriller: Wie wird Maye entscheiden? Stirbt der Junge? Und was wird aus der Ehe der Richterin? Ein brillanter, stilsicherer Roman über das individuelle Drama der starken, schwachen Frau vor einem aktuellen gesellschaftspolitischen Hintergrund.