Auf ein großes neues Literaturjahr! Als ersten Roman 2023 empfehle ich „Dein Fortsein ist Finsternis“ des isländischen Schriftstellers Jón Kalman Stefánsson. Ein wundersames Werk voller kunstvoll miteinander verwobenen Geschichten. Worum es grundsätzlich geht? Nun, eigentlich um alles. Denn Stefánsson erkundet Schicksal, Schönheit und Schmerz.
Zum Plot: Ein Mann erwacht in einer Kirche, irgendwo tief in den Westfjorden Islands, und erinnert sich an gar nichts. Doch auf dem Friedhof begegnet er einer Frau, die ihn wiedererkennt. Sie schickt ihn zu ihrer Schwester, mit der er offenbar einmal in einer Beziehung steckte. Also fährt der Mann los, mit seinem Bus und einem mysteriösen Begleiter, der neben ihm sitzt. Die Reise führt durch die atemberaubende Landschaft Islands, und parallel fängt der Roman auch die inneren Landschaften aller Figuren auf, denen der Reisende begegnet.
Da sind zum Beispiel Skuli, Kari, Halldor, Svana, Aldis, Haraldur, Einar, Loa und viele weitere Menschen. Bäuerinnen, Fischer, Pfarrer, Hausfrauen, Handwerker, Musiker und eine Frau mit einem Gewehr. Sie erzählen Geschichten von Trennungen, Unfällen, magischer Liebe und Sehnsucht, vom Überleben und immer wieder vom Tod, der zum Alltag auf dem Land gehört wie das Wetter. Die Hauptfigur, der Reisende ohne Gedächtnis, stellt sich auf seinen Wegen eine Playlist des Todes zusammen: Unter anderem mit Leonard Cohen, Nick Cave, Ella Fitzgerald, Tom Waits, Morrissey, David Bowie, The Cure und Nina Simone.
Jón Kalman Stefánsson lässt seine Geschichten ineinander fließen, lässt sie gleiten, lässt sie los, um in den Gedanken der Lesenden weitere Gefühle auszulösen. Er zeigt, wie das Schicksal dem Dasein immer wieder einen Stups gibt, und er fährt mit seiner Hauptfigur in den kleinen Fjord, wohin die Kompassnadel des Herzens zeigt. Eine Lektüre, die das Herz erwärmt und erweitert. Erschienen bei Piper, übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig.
Ich stelle den Roman am 28.1. in meiner Literatursendung bei egoFM vor – ihr hört die Show hier im Stream (ohne Musik).